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Kurt Goldschmidt wurde 1923 in St. Pauli geboren, nach dem Krieg wanderte er in die USA aus. Kenneth Hale lebt heute mit inzwischen 98 Jahren auf Long Island in New York. Foto: Brian Marcus - "Still Here Book" / Privatarchiv Kenneth Hale
Kurt Goldschmidt (links) wurde 1923 in St. Pauli geboren. Kenneth Hale (rechts) 1922 in Altona. Beide wanderten nach New York aus. Foto: Brian Marcus - "Still Here Book" / Privatarchiv Kenneth Hale
Zeitzeugen

Verwobene Leben

In der Weidenallee 10b lernten jüdische Schüler Handwerk. Darunter Kurt Goldschmidt und Kenneth Hale. Achtzig Jahre später treffen sie in New York aufeinander.

Von Vanessa Leitschuh

Max Frisch schrieb, eine Katastrophe brauche immer einen Beobachter – und zwar einen, der sie überlebt. So allein wird sie zur Katastrophe, erlangt sie Bedeutung. Nicht viele haben die Katastrophen der NS-Zeit bis heute überlebt. Nur wenige können noch aus erster Hand über die nationalsozialistischen Verbrechen aufklären. Sie sind die letzten Zeugen des Schreckens, und sie werden weniger.

Umso wichtiger ist es, diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die ihre Geschichte noch nicht erzählt haben. Und umso unglaublicher ist die Geschichte zweier Männer, die sich nach über achtzig Jahren treffen. Achtzig Jahre und 6.000 Kilometer von dort entfernt, wo sie als junge Männer ihre Lehre machten.

Kurt Goldschmidt und Kenneth Hale leben heute beide in New York. Und machten beide vor langer Zeit eine Lehre in Eimsbüttel: in der jüdischen Lehrwerkstatt in der Weidenallee 10b. Würden Geschichten in Gemäuer klettern wie Erinnerungen in unser Gedächtnis, hätten die Mauern der Weidenallee 10b viel zu erzählen. Sie würden Geschichten raunen von jüdischen Schülern, die in einer fast vergessenen Schule lernten, mit Hobel und Lötlampen umzugehen – und von den Katastrophen der folgenden Kriegsjahre.

KATASTROPHE EINS: Diskriminierung

„Wir müssen unsere Lebenspläne zu Grabe tragen.”

Lehrwerkstätten wie die in der Weidenallee entstehen ab 1933 überall in Hamburg. Viele von der jüdischen Gemeinde gegründet, um Jugendliche auf eine Auswanderung nach Palästina vorzubereiten.

Palästina ist da ein Land im Aufbau. Handwerker und Landarbeiter werden gebraucht. Das Handwerk ist aber nicht unbedingt das, was sich die Jugendlichen für ihre Zukunft wünschen. „Träume, wir wissen es heute, zerschellen an der Wirklichkeit”, schreibt ein 18-jähriger Abiturient der jüdischen Talmud-Tora-Schule am Grindelhof. „Wissenschaft und Kunst sind den allermeisten von uns verschlossen. Wir müssen unsere Lebenspläne zu Grabe tragen.”

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Hachscharah

…nannte sich die innerjüdische Bewegung, die die Vorbereitung auf ein Leben in Palästina förderte. Juden waren in handwerklichen Tätigkeiten verhältnismäßig wenig zu finden, vielmehr arbeiteten sie in akademischen Berufen oder im Handel. Das hatte historische Gründe: In der frühen Neuzeit, als das Handwerk in Zünften organisiert war, blieben die Handwerksgilden Juden verschlossen. So strebten sie Berufe an, in denen sie sich selbstständig machen konnten.

Dort, wo heute in der Weidenallee Marketingagenturen und Designfirmen sitzen, bereiteten sich damals jüdische Jugendliche auf ein Leben im Ausland vor. Zwei Werkstätten gehören zu der Schule: Eine Tischlerei im dritten Stock, eine Schlosserei im vierten. Einer der Lehrlinge ist Kenneth Hale, der da noch Klaus Heilbut heißt. Kenneth entschied sich für eine Tischlerlehre. „Weil es sauberer war”, sagt er. Und weil es nach seinem Abschluss an der Talmud-Tora-Schule 1938 kaum andere Möglichkeiten für ihn gibt. In akademischen Berufen haben Juden keine Zukunft, das Studium an Universitäten ist ihnen verboten.

Lehrlinge der Schlosserwerkstatt posieren mit ihrem Ausbildungsleiter Georg Brauer.
Lehrlinge der Schlosserwerkstatt in der Weidenallee posieren mit ihrem Ausbildungsleiter Georg Brauer. Foto: Archiv der Gedenk- und Bildungsstätte Israelitische Töchterschule

KATASTROPHE ZWEI: Pogrome und »Arisierungen«

„Auf meinen älteren Bruder warfen sie ein Messer”

Der junge Kurt Goldschmidt dagegen entscheidet sich für die Schlosserei. Für ihn ist die Ausbildung in der Lehrwerkstatt Weidenallee schon die zweite Lehre. Ein Neubeginn, nachdem die Nazis die Firma seines Chefs „arisiert” hatten. Kurt erinnert sich noch genau, wie er am Morgen nach der Pogromnacht zur Arbeit gehen will. Wie er vor zerschlagenen Fenstern steht. Wie er am Jungfernstieg Männer in Uniform und Zivilisten jüdische Geschäfte plündern sieht.

Bei seiner Arbeit angekommen, ist nur eine einzige Angestellte da. Die einzige Nicht-Jüdin. Sie schickt den 15-Jährigen Kurt nach Hause. Sein Chef Herr Liebermann darf sein eigenes Geschäft nicht mehr betreten. „Meine Lehrzeit konnte ich natürlich nicht fortsetzen: Die ‚arisierte’ Firma durfte keine Juden einstellen”, erzählt Kurt Goldschmidt.

Unheilbarer Bruch

Mit der Pogromnacht beginnt in Hamburg ein „Bereicherungswettlauf”: Innerhalb weniger Monate wechseln 1.200 jüdische Unternehmen den Besitzer. Die Nacht ist auch der Beginn der systematischen Verfolgung. Überall in der Stadt brennen Synagogen.

„Als die Bornplatz-Synagoge lichterloh brannte, und die Feuerwehr eintraf, wurde den Feuerwehrmännern gesagt, sie sollen nichts unternehmen”, erinnert sich Kurt Goldschmidt. Viele Juden wurden in dieser Nacht misshandelt, verhaftet und getötet, besonders im Grindelviertel.

Auch für Kenneth Hale sind die Pogrome des 9. November eine Wendung, ein Bruch, der nicht mehr geheilt werden kann. Er ist 16 Jahre alt und fährt an diesem Tag mit seinem älteren Bruder mit dem Rad zur Post. Sie werden angegriffen. Schnell treten sie in die Pedale, um zu entkommen. Als sein Bruder sich noch einmal umdreht, trifft ihn ein Messer im Gesicht.

Obwohl Kenneth hinter ihm fährt, hat er es nicht gemerkt. „Wir sind so schnell gefahren, um von der Horde wegzukommen”, erzählt er. Erst zu Hause bemerkt er die Verletzungen im Gesicht seines Bruders. An diesem Tag entscheidet seine Mutter, Hella Heilbut, dass sie auswandern.

„Das war höchste Zeit“

Im Mai 1939 gehen sie nach England. „Das war höchste Zeit. Wir wussten damals nicht, dass der Krieg so schnell kommen würde.” In England ist seine Zeit in der Lehrwerkstatt ein Vorteil, er kann gleich als Tischler arbeiten. Sieben Jahre später reisen sie weiter in die USA, ändern dort ihren Nachnamen: aus Heilbut wird Hale. Hella Hale wird 101 Jahre alt, Kenneth Hale lebt noch heute, mit 98 Jahren, in einem Dorf auf Long Island, New York.


Kurt Goldschmidt dagegen arbeitet auch nach 1939 weiter in der Schlosserei in der Weidenallee. Auch er hofft, in England Arbeit zu finden. „Viele Lehrlinge hatten da schon die Gelegenheit gehabt zu emigrieren.”

Schüler der Lehrwerkstatt Weidenallee beim Sportfest 1938. Foto: Privatarchiv Kurt Goldschmidt

Schlossergehilfe Walter Mannheim lässt sich von seinen Lehrlingen hochleben. Foto: Privatarchiv Kurt Goldschmidt

KATASTROPHE DREI: Abtransporte

„Sie kommen nach Theresienstadt. Das ist eine schöne Stadt, die den Juden vom Führer geschenkt wurde.”

Zur Ausbildung gehört der Besuch einer jüdischen Schule. Nach Schließung der Talmud-Tora-Schule im Grindelhof bleibt nur die israelitische Töchterschule in der Karolinenstraße. Jeden Dienstag hat Kurt dort Unterricht in Deutsch, Englisch, Hebräisch oder Turnen. In der Turnhalle im Hinterhof spielen die Schüler manchmal Tischtennis. Da lernt Kurt Esther Jonas kennen, die Tochter des Schulleiters. Sie werden ein Paar, treffen sich oft. „Wir liebten uns sehr und waren viel zusammen.”

Im Jahr 1940 muss Esthers Familie ihre Wohnung in Eppendorf verlassen. Die Gestapo wies sie in ein „Judenhaus” ein, in eine kleine Parterrewohnung im Grindelviertel. Zwei Jahre später, 1942, erreicht die Familie Jonas die Nachricht, dass sie evakuiert werden. Da war Esther gerade 18 Jahre. Der Leiter der Gestapo sagt zu Esthers Vater: „Sie kommen nach Theresienstadt. Das ist eine schöne Stadt, die den Juden vom Führer geschenkt wurde.“ Er, der ehemalige Schulleiter, werde dort wieder unterrichten können, verspricht er. Doch statt Schulunterricht wird Alberto Jonas harte Arbeit zugemutet. Er stirbt nach nur wenigen Tagen in Theresienstadt. Esther und ihre Mutter kommen nach Auschwitz. Die Nazis vergasen ihre Mutter. Esther Jonas ist eine der wenigen, die Auschwitz überleben. Viele Jahre später traf sie Kurt in New York wieder.

KATASTROPHE VIER: Zwangsarbeit

„Es war streng verboten, mit den Kriegsgefangenen zu sprechen.”

Inzwischen ist der Krieg ausgebrochen, die Lehrwerkstatt musste in kleinere Räume Beim Schlump ziehen. Aber nur für wenige Wochen: Bald verbieten die Nazis die Werkstätten ganz. Mit welcher Begründung? „Da müssen Sie die Gestapo fragen”, antwortet Kurt knapp. Das war Anfang 1940. Die Nazis brauchten Kriegsmaterial, und die Räume in der Weidenallee gingen an einen Rüstungsbetrieb der Wehrmacht. Statt Schemel und Schrank fertigte man jetzt Munitionskisten. Statt Lehrlinge schufteten jetzt Kriegsgefangene und Juden. Rund eine halbe Million Zwangsarbeiter waren in den Jahren 1939 bis 1945 in Hamburg eingesetzt.

Auch Kurt Goldschmidt muss nach Schließung der Werkstatt in einer Fabrik Kriegsmaterial herstellen. Vier Jahre lang arbeitet er in der Eimsbütteler Straße, meist an einer klapprigen Fräsmaschine. Die Arbeit ist mühsam. Ständig ist die Maschine kaputt. Aber: „Ich war froh, wenn ein Fräser brach. Das bedeutete, dass Kriegsmaterial kaputt gegangen war.”

Am Anfang sind sie sechs jüdische Arbeiter in der Fabrik. Bald kommen russische Kriegsgefangene dazu, später italienische. Es ist streng verboten, mit den Kriegsgefangenen zu sprechen. Wenn niemand da ist, freunden sie sich trotzdem miteinander an. „Ein Neapolitaner ist mir heute noch im Gedächtnis. Er war so lustig und hatte immer einen Scherz zu erzählen.”

Kurt Goldschmidts Vater ist Jude, seine Mutter aber Christin. Als „Mischling” ist sein Status einige Jahre unklar. Aber dann erreicht ihn eine Postkarte vom Berliner Reichssicherheitshauptamt: Man habe ihn als „Volljude” eingestuft, er solle sich bei der Gestapo melden. Im Januar 1945 bringt ihn ein Transport über Berlin nach Theresienstadt. Es ist ein Personenzug, kein Viehtransport wie bei vielen anderen. Kurt weiß damals nicht, was ihn in Theresienstadt erwartet. Bis heute hat er das Bellen der Hunde im Kopf, als sie das Ghetto erreichen.

KRIEGSENDE UND NEUANFANG

„Dann erreichten wir New York und wurden von der Freiheitsstatue begrüßt.”

Am 8. Mai 1945 kapituliert die deutsche Wehrmacht und die Rote Armee befreit Theresienstadt. Kurt Goldschmidt kehrt nach Hamburg zurück. Dort lernt er Sonja Bülow kennen, sie heiraten 1949 im Standesamt Eimsbüttel und wandern bald in die USA aus. „Elf Tage dauerte die Reise. Dann wurden wir von der Freiheitsstatue begrüßt.”

Achtzig Jahre Leben sind für Kurt Goldschmidt und Kenneth Hale seit ihrer Zeit in der Lehrwerkstatt vergangen, als sie sich in New York zum ersten Mal begegnen. Bis zu diesem Treffen haben sich ihre Leben an verschiedenen Punkten gekreuzt. Sie besuchten beide die jüdische Talmud-Tora-Schule im Grindelviertel. Während ihrer Lehre in der Weidenallee trennte sie nur ein Stockwerk. Jahrzehntelang lebten sie in New York eine halbe Stunde voneinander entfernt. Aber so wie kreuzende Lichtstrahlen sich weiter ausbreiten, als wäre der jeweils andere nicht da, blieben auch Kurt und Kenneth an keinem dieser Punkte stehen.

Ausgegrabene Geschichten

Dass sie schließlich aufeinandertrafen, ist dem Eimsbütteler Holger Artus zu verdanken. Artus beschäftigt sich seit Jahren mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit Eimsbüttels. Er begibt sich in die Archive Hamburgs, gräbt nach Geschichten, die sonst in Vergessenheit geraten würden, und dokumentiert sie auf seinem Blog. Durch Zufall meldete sich Kenneth Hales Sohn auf einen dieser Blogbeiträge bei Artus.

Die Leiterin der Israelitischen Töchterschule Anna von Villiez machte ihn auf Kurt Goldschmidt aufmerksam: Er war letztes Jahr mit einer Besuchergruppe in der Töchterschule und erkundigte sich bei ihr nach der Turnhalle, in der er Esther Jonas kennengelernt hatte. Holger Artus macht die beiden New Yorker miteinander bekannt, und Kurt Goldschmidt besucht Kenneth Hale in seinem Haus auf Long Island. Es war die Begegnung zwischen zwei Männern, die die Katastrophen überlebt und die Tragödie in einen Triumph verwandelt haben.

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Lehrwerkstatt Weidenallee

Während die Gründung vieler Hamburger Lehrwerkstätten mit der NS-Verfolgung zusammenhing, entstand die Lehrwerkstatt Weidenallee bereits 1929. Der Direktor der Talmud-Tora-Schule, Arthur Spier, wollte ursprünglich eine Handwerksschule für die Schüler gründen, die sich nicht für das Abitur eigneten.

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