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Foto: Annika Demgen
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Interview

„Unsere deutschen Obdachlosen“ gibt es nicht

Der politische Sprecher des Hamburger Straßenmagazins Hinz & Kunzt Stephan Karrenbauer über die Sorgen der Obdachlosen, ihre Vorbehalte gegenüber Flüchtlingen und die erste vorsichtige Kontaktaufnahme. Und darüber, warum gerade der Flüchtlingsstrom eine Chance für die Obdachlosen sein kann. Von Lea Freist.

Von Lea Z. Freist

Am Freitagmorgen ist es bereits voll in der Hauptzentrale der Hinz & Kunzt. Die Verkäufer erwerben hier einen Stapel neuer Zeitungen, die sie später an verschiedenen Stellen in Hamburg und Eimsbüttel anbieten. Sie scherzen, tauschen sich über das Geschäft aus und trinken eine Tasse Tee, bevor sie wieder nach draußen in den Nieselregen verschwinden. Stephan Karrenbauer ist Sozialarbeiter bei Hinz & Kunzt und der politische Sprecher. Er berät die Verkäufer bei Sucht, Einsamkeit und Geldsorgen. Karrenbauer arbeitet in einem kleinen Büro mit Glasfront, aus dem er das Gewusel im Vorderraum im Blick hat. Unweit von dem Hinz & Kunzt-Quartier an der Steinstraße liegt am Hamburger Hauptbahnhof die Transit-Tagesstätte für Flüchtlinge, die auf der Durchreise sind. Karrenbauer ist nah dran an den Obdachlosen und fordert, dass die Ärmsten der Armen – auch zu Zeiten der Flüchtlingskrise – nicht in Vergessenheit geraten dürfen.

Eimsbütteler Nachrichten: Herr Karrenbauer, die Hinz & Kunzt-Ausgabe vom Oktober hatte den Titel „Wir kriegen das hin“, mit dem Sie Ihre Solidarität für die Flüchtlinge in Hamburg ausdrückten. Was ist Ihr Eindruck: Wie ist die Stimmung unter den Obdachlosen gegenüber Flüchtlingen?

Stephan Karrenbauer: Die Stimmung ist schlecht. In den Medien lesen die Obdachlosen, dass Unterkünfte für Flüchtlinge in Hamburg geschaffen werden – egal, wie die jetzt tatsächlich aussehen — sie lesen nur die Überschriften „Es werden Unterkünfte geschaffen“ oder „Flüchtlinge müssen untergebracht werden“ und fühlen sich schon ein Stück weit verletzt. Da kommt Neid auf. Obdachlose spüren, dass sie bisher wenig – und jetzt gar nicht mehr –wahrgenommen werden. Das schürt den Verteilungskampf, und so wird eine Gruppe von Menschen in Not gegen die andere ausgespielt. Das macht sich auch bei uns im Projekt bemerkbar mit Beleidigungen und Vorurteilen gegenüber den Flüchtlingen. Wobei es in der Gesellschaft, schon bevor die Flüchtlinge gekommen sind, so war, dass Obdachlose ganz hinten anstanden. Und nichts bekommen haben.

Eimsbütteler Nachrichten: Nehmen ihnen die Flüchtlinge etwas weg?

Stephan Karrenbauer: Nein, weil die Obdachlosen schon vorher nichts hatten. Und die Obdachlosen sind nicht erst durch die Flüchtlinge ins Hintertreffen geraten. Sie waren es schon, bevor vor dem Krieg geflohene Syrer und Afghanen kamen. Was ich entscheidend finde – und was ich auch immer wieder betone – ist die Tatsache, dass wir, der normale Mittelstand, seine Kleidung spendet und sich dabei gut fühlt: „Wir haben etwas dazu beigetragen, dass es den Flüchtlingen besser geht“. Aber Menschen, die nichts haben, können auch nichts geben. Noch nicht einmal emotionale Wärme. Die sind selbst extrem bedürftig. Deswegen bin ich immer sehr nachsichtig bei den Obdachlosen, die sich verletzt fühlen und einen doofen Spruch bringen. Es dauert sehr lange, bis wir bei Hinz & Kunzt Hausverbot erteilen, weil ich Ressentiments ein Stück weit nachvollziehen kann. Es ist Ausdruck davon, dass es ihnen schlechtgeht.

Stephan Karrenbauer Foto: Lea Freist
Stephan Karrenbauer. Foto: Lea Freist

Eimsbütteler Nachrichten: Beschränkt es sich auf Wenige, die Stimmung gegen Flüchtlinge machen?

Stephan Karrenbauer: Es sind Einzelne, die Stimmung machen und das wird untereinander weitergetragen, die Sorge und der Neid verbreiten sich wie ein Lauffeuer unter den Obdachlosen. Aber ich merke, sobald Obdachlose eine feste Unterkunft haben, denken sie anders. Wir haben jetzt gerade am Hamburger Flughafen ein Projekt initiiert, bei dem Obdachlose Pfandflaschen sammeln. Vier Leute haben dadurch einen festen Arbeitsplatz bekommen und vor allem eine gesicherte Unterkunft. Jeden Monat finden die Vier rund fünfzig geschlossene Getränkeflaschen, die in die Tonne geschmissen werden. Die heben die ehemaligen Obdachlosen auf und es hieß als erstes: „Mensch, die können wir doch den Flüchtlingen bringen.“ Was ich sagen will ist, wenn die Obdachlosen etwas haben und geben können, sind sie vielleicht sogar stärker dazu bereit zu helfen, weil sie wissen, wie es sich anfühlt. Aber sie haben nichts. Da muss man nicht verachtend sein. Wir hingegen haben es leicht, die Guten zu sein.

Eimsbütteler Nachrichten: Sie haben Mitte des Jahres zusammen mit einer Gruppe von Obdachlosen die Flüchtlingsunterkunft in den Messehallen besucht. Warum?

Stephan Karrenbauer: Die Obdachlosen, die eine Unterkunft suchen und dringend Schutz brauchen, ihrer Verzweiflung mit Sprüchen Ausdruck verleihen, bei denen kommt momentan nur an: Die Flüchtlinge kriegen alles und wir haben nichts. Deswegen haben wir beschlossen mit einigen, die sehr massiv Stimmung bei uns machen, gemeinsam eine Unterbringung zu besuchen. Als wir dort aufgetaucht sind und anschließend mit Flüchtlingen gesprochen haben, herrschte eine beklemmende Stille. Niemand hat mehr etwas gesagt, auch die lautesten nicht. Denn so will niemand untergebracht werden: fast über tausend Menschen in der Halle, eng zusammengepfercht, manche nur auf dünnen Matratzen auf dem Boden gebettet. Das war schon gespenstisch. Dagegen schien den Hinz und Künztlern das Pik As fast schon luxuriös. Das führte erst einmal zu Ruhe unter den Stimmungsmachern.

Eimsbütteler Nachrichten: Kippt die Stimmung, gerade jetzt, wo es kalt wird?

Stephan Karrenbauer: Die Stadt hat es geschafft, 900 zusätzliche Schlafplätze für Wohnungslose bereitzustellen. Allerdings unbegreiflicherweise – sowie in den letzten Jahren auch – müssen die Obdachlosen tagsüber wieder raus. Und auch das schürt Wut und führt nicht gerade dazu, dass sich Obdachlose gleichbehandelt fühlen. Wir haben nicht genug Tagesaufenthaltsstätten, in denen sich alle Hamburger Obdachlosen tagsüber aufhalten können. Die irren bei den Temperaturen durch die Stadt und warten darauf, dass es dunkel wird, damit sie wieder zurück in ihre Unterkünfte können. Egal, wie ihr körperlicher Zustand ist, sie müssen raus. Aber es ist keine öffentliche Aufmerksamkeit für die Obdachlosen und Empörung gegen diese Zustände da, wie es in der Regel gewesen ist, wenn es kalt wurde, zu dieser Jahreszeit.

Eimsbütteler Nachrichten: Es ist also nicht nur eine Wahrnehmung, sondern es gibt reale Nachteile?

Stephan Karrenbauer: Es hat sich etwas Entscheidendes durch die Flüchtlinge verändert, denn jetzt werden Vergleiche angestellt. Jetzt vergleichen die Obdachlosen ihre Situation mit der der Flüchtlinge und haben das Gefühl, dass sie ungerecht behandelt werden. Aber noch einmal: Man darf Menschen nicht gegeneinander ausspielen. Insbesondere muss man aufpassen, dass Gruppen, die vorher Obdachlose als Asoziale bezeichnet haben – nämlich die Rechten – diese Ungleichheit instrumentalisieren. Auf einmal bezeichnen sie Obdachlose als ihre Freunde und fordern, „unsere deutschen Obdachlosen“ zu schützen und vorzuziehen. Das ist verqueres Denken. Davon distanzieren wir uns entschieden. Vor allem, da es „unsere deutschen Obdachlosen“ schon lange nicht mehr gibt. Die Straße ist vielfältig und bunt: In Hamburg gibt es sehr viele Rumänen, sehr viele Bulgaren, die Wanderarbeiter – die noch vor drei Jahren ein ganz großes Thema in der Öffentlichkeit waren und Rufe laut wurden, sich für diese Menschen einzusetzen. Die kommen gar nicht mehr vor. Jetzt heißt es, die hätten ja selbst Schuld, dass sie überhaupt in Deutschland auf der Straße landen. Für uns ist jeder, der keine Unterkunft findet, eine Person, der man helfen muss. Doch es geht schon um den politischen Willen. Es scheint als hätten Obdachlose, die keine Flüchtlinge sind, keine politische Lobby.

Eimsbütteler Nachrichten: Fragen Sie sich denn auch, warum geht jetzt, was bei den Obdachlosen nicht ging?

Stephan Karrenbauer: Das Positive an der ganzen Flüchtlingsgeschichte ist ja, dass vieles in Hamburg möglich scheint, wenn eine ganze Stadt sich anstrengt. Das, was wir jahrelang vorher gefordert und was immer verneint wurde, das wird bei Flüchtlingen jetzt umgesetzt. Beispielsweise Menschen in leerstehenden Bürogebäuden unterzubringen. Bisher war es auch undenkbar, viel härter gegen Leerstand vorzugehen und Obdachlose dort unterzubringen. Der Flüchtlingsandrang kann also auch als Anstoß für ein allgemeines Umdenken gesehen werden – und ich hoffe, dass auch die Wohnungslosen davon profitieren. Man kann jetzt nicht mehr sagen, für die eine Gruppe machen wir es und für die andere nicht. Sondern man muss, das ist das Wichtigste, die Öffentlichkeit dafür sensibilisieren, dass man die Leute gleichbehandelt. Alle, die sonst in Not und auf der Straße sind, müssen untergebracht werden. Flüchtlinge, aber auch genauso die Obdachlosen und darunter genauso Rumänen, Spanier oder Bulgaren. Das spielt gar keine Rolle. Hamburg hat 2015 rund 20.000 Flüchtlinge untergebracht. Dann kann man auch weiteren 2.000 Obdachlosen eine Unterbringung beschaffen.

Eimsbütteler Nachrichten: Was erwarten Sie vom Senat?

Stephan Karrenbauer: Wir fordern, dass ohne Wenn und Aber alle Menschen in Not untergebracht werden, mit dem Ziel einer dauerhaften Lösung. Es muss dafür Sorge getragen werden, dass Menschen nicht jedes Jahr im Frühjahr wieder vor die Tür geschickt werden, sondern dass ein richtiges Konzept erstellt wird, dass das verdammte Winternotprogramm überflüssig macht. Die Menschen werden immer kränker und kranke Menschen in Wohnungen zu vermitteln, das ist echt kompliziert. Denn Fakt ist: Allen geht es schlecht. Den Flüchtlingen, den Obdachlosen und EU-Wanderarbeitern, von denen gerade niemand mehr spricht. Alle brauchen ein menschenwürdiges Dach über dem Kopf.

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