Der Kaptein ist tot
Gerhard Lickfett ist am 19. Februar 2017 in Hamburg gestorben. Der Lokstedter war Kapitän auf mehreren Großseglern, leidenschaftlicher Leichtathlet und Tänzer. Im März wäre er 80 Jahre alt geworden. Erinnerungen an eine eindrucksvolle Persönlichkeit.
Von Holger VogelDie erste Begegnung mit Gerhard Lickfett im Sommer vergangenen Jahres: Der 79-Jährige – drahtiger Körper, weißes Haar, fester Blick – trainierte für den Jedermannzehnkampf des Hamburger Sportvereins. Beim Kugelstoßtraining trafen wir uns – als Sportskameraden. Vor Übungsbeginn schritt er vom Kugelstoßring acht Meter ab und machte dort eine Markierung in die Asche. Acht Meter oder ein bisschen mehr wollte er stoßen. Er war ehrgeizig, sehr ehrgeizig. Sein Ehrgeiz war aber nicht unangenehm. Man merkte sofort, dass er es mit allem, was er tat, ernst meinte, und es doch sportlich nahm: Nach seinen Stößen positionierte er sich auf der Anlage und rollte die Kugeln der anderen zurück. Fairness eines Fahrensmannes.
Die Nachricht von seinem Tod erreichte mich über Whatsapp. Mitten im Kölner Karneval kam auf dem Smartphone eine Nachricht mit einem Link zu einem Artikel über Gerhard Lickfett. Ich dachte, er hätte wieder einen Titel gewonnen. Hatte er nicht. Es war Gerhards Nachruf. Keine Titel mehr für den dreifachen Vizeweltmeister der Senioren im Stabhochsprung, obschon er sich gerade auf die Hallen-WM vorbereitete. Keine spannenden Geschichten mehr von ihm über hinterhältige Piratenüberfälle auf See. Kein Seemannsgarn mehr über Meerjungfrauen, die er so liebte.
Als Reporter durfte ich ihn bei seinem letzten Zehnkampf Anfang September des zurückliegenden Jahres auf der Jahnkampfbahn begleiten. Hautnah. Akribisch widmete er sich jeder der zehn Disziplinen, dehnte immer wieder seinen Körper, hielt mit seinen Kräften haus. Was er tat, tat er aus Überzeugung und höchst leidenschaftlich. Zwischen den Wettkämpfen plauderte er entspannt über Gott, die Welt und die Seefahrt. Sehr persönlich dafür, dass wir uns erst seit ein paar Stunden kannten. Beim Stabhochsprung, seiner Paradedisziplin, stieg er erst ein, als die Meisten in seiner Riege schon ausgeschieden waren; obwohl sie seine Enkel hätten sein können.
Der Zehnkampf diente als Test für die Weltmeisterschaften im australischen Perth, wo er Anfang November 2016 im Stabhochsprung seiner Altersklasse antrat. Er war zuverlässig. Im Sport wie im Privatleben. Wie abgesprochen meldete er sich per Mail und sogar telefonisch aus Down Under und übermittelte das Ergebnis und Eindrücke vom anderen Ende der Welt. Mit dem Hinweis, dass er nicht so lange telefonieren könne, weil es teuer sei. Er holte die Bronzemedaille. Mehr als erhofft.
Ein Erzähler par excellence
Beeindruckend war das Interview mit Gerhard Lickfett im Wintergarten seiner Wohnung in Lokstedt. Es gab Kaffee, Kuchen und Kekse. Er war ein begnadeter Geschichtenerzähler. Gerhard packte den Zuhörer mit seiner knarrzigen Stimme, klaren Worten, dramaturgischen Pausen und Tempowechseln. Wichtige Stellen betonte er, indem er die Worte noch einmal wiederholte. Er hatte viel zu erzählen. Drei Minuten berichtete er zu Beginn des Interviews, wie er zum Stabhochsprung gekommen war. Dann eine Pause und die fast fürsorglichen Fragen: „Muss ich aufhören? Willst du wieder fragen?“
Während des Gesprächs holte Gerhard seinen Stabhochsprungstab hinter dem Sofa hervor und zeigte, wie er ihn griff und wie er ihn bog. Dafür hatte er sich in einer Ecke des Wintergartens eine Einstichanlage nachgebaut. Noch ein paar Aufschwünge an der Reckstange, so dass die Füße die Decke berührten, und das Interview mit dem höchst agilen Interviewpartner konnte weitergehen. Fast acht Schreibmaschinenseiten Lebensgeschichte kamen zusammen.
Gerhard Lickfett beim Stabhochsprungtraining zwischen Sessel und Tisch in seinem Wohnzimmer. Foto: Holger Vogel
Immer die Segel gehisst
Über ein halbes Jahrhundert fuhr er zur See, Segelschiffe hatten sein Herz erobert. Kapitän auf der „Alexander von Humboldt“, auf „Star Flyer“, „Star Clipper“ und der „Sea Cloud“ I und II. Im Artikel machte ich ihn zum „Kapitän zur See“. Er protestierte postwendend. Das sei eine militärische Bezeichnung. Wäre er Kapitän zur See gewesen, bekäme er eine große Pension. Fasziniert war Gerhard vom Untergang der „Pamir“. In einer Kladde sammelte er alle Daten über die Viermastbark, stellte seitenlange Berechnungen an und kam zu dem Schluss, dass die „Pamir“ gesunken sei, weil die Gersteladung an Bord verrutschte. Er hatte die „Pamir“ im Sturm gezeichnet, denn auch mit Bleistift und Kreide konnte er umgehen.
Die Liebe zur Seefahrt wurde erfüllt. Die zu einer Frau oftmals nicht. Damen nannte er respektvoll „Meerjungfrauen“, umgarnte sie mit betörendem Charme und Humor. Er fabulierte, dass die Netze der Fischer grob geknotet seien, damit sich die eingefangenen Meerjungfrauen wieder befreien können. Leidenschaftlich tanzte Gerhard mit den Damen argentinischen Tango und sah es pragmatisch: Es gebe viele Frauen, die tanzen wollen, aber zu wenig Männer: „Dann sagen die Damen: Gerhard, komm´ und hilf…!“ Er half gerne, räumte aber leise ein, dass er im Umgang mit Frauen zu weich sei. Vielleicht vergaß er schlicht, dass des Seemanns Braut das Meer ist.
Der letzte Austausch über Anrufbeantworter
Im Interview sagte Gerhard Sätze, die im Nachhinein einen größeren Sinn bekommen: „Ich feiere jeden Tag Geburtstag, denn es könnte jeden Tag zu Ende sein.“ Er rechne damit. Gerhard betonte, dass er noch keinen richtigen Unfall gehabt habe. Damit meinte er einen Unfall beim Stabhochsprung-Training. Nicht einen Sturz mit seinem Motorroller, der ihm wohl schlussendlich zum Verhängnis wurde.
Unser letzter Kontakt vor ein paar Wochen: Gerhard bedankte sich auf dem Anrufbeantworter nachträglich für die Einladung zu meiner Geburtstagsfeier. Fast schon devot, wollte er diesen Dank loswerden. Wie immer sagte er am Anfang eines Gesprächs: „Hier ist Gerhard, der Seemann“, obwohl ich ihn „Kaptein“ nannte. Auch ich sprach nur auf seinen Anrufbeantworter und beruhigte ihn, dass er sich bereits mehrfach für die Einladung bedankt hätte. Die Nachricht erreichte ihn nicht mehr.
Gute Reise, mein großväterlicher Freund!