Corona-Tagebuch: Warum die EFA keinen Sinn für Jogger hat
Martin Busche zählt mit uns allen die Tage, die uns Corona stiehlt und führt ein öffentliches Tagebuch: subjektiv, ehrlich, schonungslos. Bis Corona uns hoffentlich scheidet.
Von Martin BuscheDonnerstag, 2. April
Mein Bruder ist Lehrer, hat also jetzt viel Zeit. Sonst auch, aber jetzt noch mehr. Täglich ruft er mich an und beschwert sich über Jogger. Mal kommen sie ihm zu nahe, mal laufen sie ihm nicht schnell genug weg. Wenn er mit Gattin im Park lustwandelt, dort seinen schweren Gedanken nachhängt. Irgendwas ist immer. Kürzlich hat er sogar behauptet, einer der Jogger hätte sich geschüttelt wie ein Pudel. Das ist natürlich Quatsch. Wer tagtäglich mit Kindern zu tun hat, erzählt oft solche Geschichten.
Ich höre dann weg, hab seine Jogger-Phobie ein bisschen belächelt. Lehrer sind ja von Berufswegen nicht so einfach, sagt man. Das kann ich bezeugen. Seit gestern weiß ich aber, er hat recht.
Da bin ich meiner Wege gegangen, guter Wege wie immer, wenn ich an die frische Luft komme: Einkaufen, einmal um den Block, schnell zur Post, was man so tut, in Kontaktsperrezeiten, die sich sich anfühlen wie Ausgangsverbot.
Der Weg zum Edeka war ein reines Spießrutenlaufen: Ich gegen die Jogger. Sie kamen von überall, wie im Computerspiel. Vorn vorne, von hinten, von der Seite. Die meisten verschwitzt. Joggen ist Sport, da schwitzt man. Schwitzende Jogger sind für Fußgänger potentiell gefährlich, Tröpfchenüberträger.
Ich also weg, ab in die Rabatten. Was sollte ich sonst tun? In dunklen Zeiten kommt schon mal der Gedanke hoch, wie man wohl stirbt. Friedlich am besten, im Schlaf. Nicht schön, aber muss ja irgendwie sein. Ganz plötzlich, wäre auch noch okay. Aber infiziert durch einen Jogger? Das kann doch wohl nicht sein. Das will keiner. Aus den Rabatten komm ich wenigstens heil wieder raus.
Das Problem löst das aber nicht. Auch ich habe das Gefühl, nicht nur der Virus breitet sich sich exponentiell aus, auch die Jogger. Ich kannte das Wort nicht, mein Bruder wusste es: Der weiß oft so was. Irgendwie ist da auch was dran. Aus geschätzten zwölf Joggern, die vorgestern an meiner Wohnung in der Mansteinstraße vorbeigelaufen sind, wurden gestern geschätzte 24. Und wenn heute das Wetter schön wäre, kämen bestimmt 48. Morgen dann 96… Krass. Wo führt das noch hin?
Jogger nun einfach so als Infektionsrisiko zu bashen, wie Treppengeländer oder Busfahrten wäre aber auch nicht okay. Irgendwo müssen sie ja hin. Joggen ist gesund, auch zu Corona-Zeiten, stärkt das Immunsystem. Da sind sich die Experten ausnahmsweise mal einig. Empfehlen mehr Sport. Joggen einfach zu verbieten, ist also Quatsch.
Ich plädiere für staatliche Maßnahmen. Der freie Markt hat in diesen Wochen oft genug versagt. Irgendwann ist Corona weg, die Jogger aber nicht, das Recht des Stärkeren. Schluss also mit der rechtlichen Grauzone. Wir fangen auch durchaus nicht bei null an.
Die Architektur der Wege
Wie breit ein Fußweg sein darf, und was da alles so drauf und dran vorbei geht, hat 2002 eine Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen – FGSV – erarbeitet und in die „Empfehlungen für Fußverkehrsanlagen“ gegossen. Kurz 2002. Seitdem gibt es offizielle Mindestanforderungen, die ein Gehweg erfüllen soll, „basierend auf aktuellen Forschungsprojekten zum Flächenbedarf der Fußgänger“, heißt es bei Wikipedia. Ich zitiere in Auszügen, mit Erlaubnis der Redaktion:
- Das Begegnen zweier Fußgänger, auch mit Regenschirmen muss möglich sein. Zwei sich begegnende Fußgänger müssen genügend Abstand zwischen sich haben.
- Zu berücksichtigen ist auch, dass im Durchschnitt 46 Prozent der Fußgänger ein Gepäckstück, eine Tasche oder dergleichen tragen.
- Ein Überholen langsamer Personen, die zum Beispiel nur schlendern, muss möglich sein.
- Etwa 40 Prozent der Fußgänger sind als Paar oder größere Gruppe unterwegs.
- Es muss ein Abstand zur Hauswand vorhanden sein.
- Um die Barrierefreiheit zu gewährleisten, muss das Begegnen von zwei Rollstuhlfahrern möglich sein.
- Zur Nutzbarkeit gehört auch die Möglichkeit des Begegnens zweier Personen mit Kinderwagen.
- Gehwege haben auch soziale Funktionen wie Aufenthalt. Auch dafür muss der entsprechende Platz vorhanden sein“.
Das ist noch nicht alles, es geht jetzt erst los: „Die Mindestanforderung, bezeichnet als Grundausstattung, ist eine Seitenraumbreite von 2,50 Metern. Dazu kommen allerdings noch Zuschläge … bei Stellflächen für Fahrräder je nach Aufstellwinkel zwischen 1,5 m und 2,0 m. Sind Schräg- oder Senkrechtparkplätze vorhanden, kommt wegen des Fahrzeugüberhanges ein Zuschlag von 0,75 m hinzu…“
Ja, das ist lustig und schon schräg. Bringt das Joggerproblem aber nicht weiter. Jogger tauchen in der EFA 2002 der FGSV nicht auf. Die sind ja auch nicht genormt, wie die Regenschirme. Es gibt kleine Jogger, große, dicke, dünne schnelle, langsame. Jeder braucht seinen ganz eigenen Platz auf dem Gehweg und das bei offiziell 2,50 Metern. Das überfordert die Statistik. Andererseits, wer den Platzbedarf von Fußgängern mit dem Anstellwinkel von Fahrrädern addieren kann und dazu noch die Senkrechtparkplätze von Autos, sollte auch mit den paar Joggern fertig werden, die es 2002 schon gab.
Überhaupt sind die 2,50 Meter ein Witz. Ich habe heute exakt nachgemessen, per Zollstock. Was gar nicht so leicht war. Den Zollstock einfach so ruhig auf die Erde legen, ging nicht. Ich musste mich beeilen, wegen der Jogger, mein Metermaß war nur geliehen. Das Ergebnis: ernüchternd. Mein Gehweg vor dem Haus ist gut 50 Zentimeter zu kurz. Mindestens, über den Daumen gerechnet, Aufstellwinkel der Räder oder die Senkrechtparkplätze der Autos kämen noch dazu. Da passen in Friedenszeiten weder zwei Rollstühle nebeneinander durch, noch zwei Kinderwagen. In Corona-Zeiten Jogger und Fußgänger mit Mindestabstand schon gar nicht.
Und nun? Ich weiß es nicht. Rücksichtnehmen, wenn zwei Fußläufer sich begegnen, vielleicht. Obacht geben, langsamer laufen. Zur Not die Seite wechseln. Wir sollten es vielleicht einfach tun. In Corona-Zeiten ist ja eh vieles anders als sonst.
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