Dorfladen – Besuch im Eisenbahnerviertel
Viele reden vom Eisenbahnerviertel, aber wer kennt es? Nicht die Betonklötze, sondern seine Bewohner? Über ein Dorf in Eidelstedt, das im Supermarkt zusammenkommt.
Von Julia HaasRuhe hallt durch den Hilpertweg. Eine Haustür steht offen, niemand ist zu sehen. In der Ferne schreien Kinder, irgendwo rauscht eine S-Bahn. Stille im Edelweißweg. Es ist früher Nachmittag. Wie ein verschlafenes Dorf liegt das Eisenbahnerviertel im Nordwesten von Eidelstedt. Die mehrstöckigen Betonklötze schweigen, die Wiesen dazwischen ruhen in der Mittagssonne. Der Großstadttrubel: weit weg.
An der Ecke Redingskamp und Alpenrosenweg beginnt das Eisenbahnerviertel zu sprechen. „Willkommen zuhause”, sagt ein Mann mit schwarzer Schildmütze. Er sitzt auf einem ausrangierten Esszimmerstuhl im Schatten der Markise vor einem Supermarkt.
Das Eisenbahnerviertel liegt in der Schneise zwischen Bahnschienen und Lohkampstraße, knapp fünfzehn Gehminuten vom Eidelstedt Center entfernt. Zum Viertel gehören der Alpenrosenweg, Hilpertweg, Redingskamp, Edelweißweg und Haseldorfer Weg – auch andere Straßen. Ganz genau lässt sich das Eisenbahnerviertel nicht eingrenzen. Google Maps und andere Straßenkarten-Apps stutzen bei der Suche nach dem „Eisenbahnerviertel”, setzen Stecknadeln weit entfernt vom Viertel oder finden keine Treffer.
Der Name ist geblieben
Früher hat die Eisenbahn-Wohnungsgesellschaft hier im westlichen Teil von Eidelstedt, direkt an den Gleisen drei- bis fünfstöckige Wohnblöcke mit weiten Grünflächen dazwischen erbaut. Eisenbahner zogen ein. Die meisten sind weg, der Name ist geblieben. Viele kennen ihn wegen dem, was nach der Eisenbahn kam: das Wohnungsunternehmen Vonovia, die Pläne zur Nachverdichtung, die Bürgerinitiative. Das Eisenbahnerviertel ist mehr als das. Mehr als das Bestreben, neue Wohnhäuser zu bauen. Mehr als die Unterschriften, die das Vorhaben ausbremsten.
Es sind die Männer vor dem Supermarkt im Alpenrosenweg, die neuen Ladenbetreiber hinter der Kasse, der „Bürgermeister” an der Kuchentheke. Es sind Schüler, die an der Ladenkasse Rat finden. Junge Menschen, die die Eisenbahn nie kannten. Das ist die Geschichte über ein Dorf mitten in Eidelstedt. Ein Viertel, das sich leise verändert und mit sich hadert. Eine Siedlung mit Supermarkt, der mehr bietet als volle Regale.
Vor dem Supermarkt im Alpenrosenweg 43 hocken zwei Männer. Zwischen ihnen ein Metalltisch mit Glasplatte, in der Mitte ein Aschenbecher. Sie aschen ihre Nikotin-Stummel darüber ab. Auf ihren Köpfen Schildmützen – rot mit Hamburg-Wappen, schwarz mit „Chicago White Sox”-Schriftzug. Auf ihren Schößen Umhängetaschen, in die ein Geldbeutel und ein bis zwei Marlboro-Schachteln passen. Der mit der schwarzen Schildkappe, er ist der Bürgermeister vom Eisenbahnerviertel.
Michi
Wer das Eisenbahnerviertel kennenlernen will, geht zu ihm: Michi. Eigentlich heißt er Michael Bast. Niemand nennt ihn so. Im Supermarkt, wo er arbeitet oder im Schatten sitzt, sagen sie „Bürgermeister” zu ihm. Weil er alle kennt. Er lebt schon immer im Eisenbahnerviertel – seit 45 Jahren. Er ist im Redingskamp 87b aufgewachsen. Vom Supermarkt aus kann er auf sein Elternhaus blicken. Und auf das weite Grün dahinter. Jetzt wohnt er ein paar Straßen weiter. Mit seinen zwei Kindern Leon und Maus. Sein Telefon brummt: Uwe. Ein Hausmeister im Viertel, erklärt er später. Es geht um Müll an der Straße, dass er jetzt weg ist. Und dass sie anfangen, unten im Haus. „Wenn irgendwas ist, rufen die Hausmeister mich an.”
„In diesem Laden lebt man, hier stirbt man“
Michael weiß, wo, wann, was im Viertel passiert. Er grüßt, wenn ältere Damen mit Rollator vorbeigehen. Er sucht das Gespräch mit den 14-jährigen Jungs, die an der Kasse im Supermarkt ihre Energy-Drinks zahlen. Er nennt sie „Sunnyboys” – kurze hellblonde Haare, weiße Adidas-Jacken. Und sie: keine Spur von peinlicher Berührung, stattdessen Schmunzeln. Eine Mädchen-Clique umarmt ihn der Reihe nach, als wäre es ein Familientreffen. Später läuft „Vaddi” vorbei. Er ist nicht sein Vater – egal. So wie Ercan kein „Onkel” ist, Leyla nicht die „Tante”.
Eigentlich müsste der Supermarkt im Alpenrosenweg 43 „Bürgerladen” heißen, sagt er. „In diesem Laden lebt man, hier stirbt man.” Das nächste Lebensmittelgeschäft liegt am Eidelstedter Platz oder in Lurup. Andere Treffpunkte? „Nö, hier ist sonst nichts”, sagt Michael und zieht die Augenbrauen nach oben, als würde man in seinem Tausend-Seelen-Dorf nach einem zweiten Rathaus fragen. „Hier trifft man sich, hier redet man, hier schimpft man, und am Schluss haben sich alle wieder lieb.”
Der Supermarkt – auf der Fassade steht „File”, aber niemand scheint ihn so zu nennen – ist der Ort, an dem sich das Eisenbahnerviertel trifft. Manche kommen für den Wocheneinkauf, andere für ein Franzbrötchen zum Mitnehmen. Viele bleiben länger, verweilen auf den Stühlen oder an den Coca-Cola-Stehtischen vor dem Eingang, trinken Filterkaffee mit Milch. „Jung und Alt trifft sich hier”, sagt Michi, zieht seine Kappe hoch und wieder runter. Er ist froh darüber und sagt, das Eisenbahnerviertel habe das Leyla und Firat zu verdanken. „Den geilsten Chefs.” Und immer wieder: „Wahnsinn, was die machen.”
Leyla und Firat
Im letzten Sommer übernehmen die Freunde Leyla und Firat den Supermarkt. Sie leben in Eidelstedt, kennen Eidelstedt. Dass sie sich den Supermarkt im Eisenbahnerviertel aufbürden, war ein Zufall. Sie suchten gerade ein neues Projekt. Bekamen mit, wie der ehemalige Ladeninhaber das „Herz des Eisenbahnerviertels” verwahrlosen lässt. Ihr Ziel: alles besser machen.
Wo jetzt draußen unter der Markise Tisch und Stühle stehen, trieb vor Kurzem noch Unkraut. Die Scheiben waren dreckig, das Obst verschimmelt, die Ware abgelaufen, erzählt Leyla. Ihr weißes T-Shirt schmückt ein glitzerndes Deutschland-Herz, ihre Lippen leuchten im Rot der Flagge. Mit Firat, ganz in schwarz, keine Haare, kurze Bartstoppeln, poliert sie das Geschäft auf: neue Regale, frische Lebensmittel, Mittagstisch, Sitzmöglichkeiten, Kratzeis. Auf den Fenstern klebt noch der Schriftzug „Neueröffnung”.
Wie Gorillas, nur ohne App
Das Sortiment erinnert an die Auslage eines Touri-Shops: Sonnenbrillen in allen Farben. Mützen, Strohhüte, Schildkappen, Ledergürtel. Ware, die bleibt. In den Lebensmittel-Regalen reihen sich orientalische Snacks, Nüsse und Trockenobst, neben Barista-Hafermilch. Lebensmittel für den täglichen Gebrauch. Und ein bisschen mehr. Wie in der Zeit, als Discounter noch nicht von Innenarchitekten konzipiert wurden.
Leyla und Firat betreiben den Supermarkt unabhängig von großen Ketten, kaufen die Ware selbst ein – bei Metro oder Kaufland. „Wir finden keinen deutschen Lieferanten, weil die Vormieter Mist gebaut haben.” Trotzdem versuchen sie, allen gerecht zu werden. Älteren Anwohnern liefern sie die Lebensmittel nach Hause – wie Gorillas, aber ohne App, telefonisch.
„Kassen SOS“
Gegen 13 Uhr kommen die ersten zum Mittagessen. „Wir haben einen Fisch-Tag, einen Schnitzel-Tag, einen Spaghetti-Tag …”, zählt Leyla auf, kozentriert, keinen Tag zu vergessen. Heute gibt es selbstgemachte Ravioli mit Joghurtsauce. Das Essen wird in Firats Restaurant in der Alsterkrugchaussee vorbereitet. Weil es im Supermarkt keine Küche gibt, das Amt das nicht erlaubt, erklärt Firat.
Hinter der Brottheke kümmert sich Leyla um den Feinschliff. Sorgfältig rollt sie das Kantinengeschirr in weiße Servietten ein, verfeinert die Mahlzeit mit Minze und Knoblauch und bringt sie den wartenden Gästen an den Tisch. Sie sitzen zwischen Brottheke, verpacktem Geschirr und dem Langnese-Eisständer. „Wir kommen jeden Tag”, sagt einer von ihnen.
Firat wollte den Supermarkt am Anfang nicht. „Aber was willst du machen, die Frauen.” Er grinst. Wenn Firat „Kassen-SOS” ruft, eilt Leyla zur Hilfe. Wenn sie eine Pause braucht, übernimmt er. Die beiden verstehen sich – als Geschäftspartner und Freunde. Das müssen sie. Nicht alles läuft im Eisenbahnerviertel so makellos, wie Leylas selbstgebackene Sahnetorte mit Chanel-Schriftzug aussieht. Dörfliche Ruhe bedeutet nicht gleich idyllische Harmonie.
Onkel Ercan drückt ein Auge zu
Natürlich gibt es soziale Probleme, sagt Michi, der Bürgermeister. Laut Sozialmonitoring der Stadt Hamburg lebten im Eisenbahnerviertel 2019 etwa 35 Prozent der unter 15-Jährigen in Mindestsicherung, waren auf Sozialhilfen angewiesen. Bei manchen reicht das Geld nicht mal für die Capri-Sun, sagt Michael. Er weiß, dass das zum Klauen verleitet. Und einige klauen gerne. Wer den Supermarkt im Alpenrosenweg betritt, muss deswegen einen Einkaufskorb mitnehmen. „Wirklich jeder?”, fragt ein 13-jähriges Mädchen, das mit seinen Freundinnen den Laden betritt. Jeder.
Ein Korb in den Händen hält nicht davon ab, etwas unauffällig in die Jacke zu stecken, aber er erinnert daran, dass es nicht sein muss. „Sie können mit uns reden”, sagt Michi. Wenn an der Kasse 40 Cent fehlen, drückt Onkel Ercan – so nennt Michael einen der Supermarkt-Mitarbeiter – ein Auge zu oder Firat gibt ein Brötchen aufs Haus mit. „Viele bringen die 40 Cent dann am nächsten Tag oder in der nächsten Woche mit.” Das Konzept geht auf – zumindest meistens.
Vor drei Monaten wird im Supermarkt eingebrochen: Die Ersparnisse von zehn Monaten sind weg. Eigentlich wollten sich Leyla und Firat davon einen kleinen Transporter kaufen. Wer war das? „Ein guter Kunde.” Er habe den Schlüssel geklaut. Leyla zuckt die Schultern. „Immerhin geht es uns gut.”
Die nächste Generation
Und trotzdem, sagt der Bürgermeister: Der soziale Konflikt hält sich in Grenzen. Keine Schießereien. Kein Brennpunkt. „Das Viertel ist sehr ruhig.” Auch Werner Peplinski, Stadtteilpolizist im Eisenbahnerviertel, beobachtet keine speziellen Konflikte. Seit 2018 betreut er das Viertel, hat die Bewohner immer als „polizeifreundlich” wahrgenommen.
Aber da ist Veränderung. Rund 3.000 Menschen leben im Eisenbahnerviertel. So steht es im Sozialmonitoring. Knapp die Hälfte davon mit Migrationshintergrund. Bei den unter 18-Jährigen sind es 75 Prozent. Früher lebten hier Kollegen nebeneinander, Eisenbahner. Viele der älteren Bewohner denken an die „gute alte Zeit” zurück, in der man sich noch kannte, sagt Polizist Peplinski. Jetzt ist es eine neue Mischung. Michael, der Bürgermeister, stammt aus einer Eisenbahnerfamilie: Sein Opa war Eisenbahner, sein Vater. Auch er arbeitete im Gleisbau – „noch richtige Maloche”. Nach drei Arbeitsunfällen war Schluss.
Im Viertel habe die Eisenbahner-Zeit schon vor zehn, vielleicht fünfzehn Jahren geendet. Während sich seine Worte sonst überschlagen, spricht Michael jetzt langsam, blickt in Richtung seines Elternhauses. Das Wohnen sei früher angenehmer gewesen. Weil man die Nachbarn kannte, ähnliche Leben führte. „Die Muddis und Omis in ihren Kitteln”, er lächelt, „die haben sich im Waschhaus getroffen und dort gemangelt.” Heute sei da kein Mensch mehr.
Das Waschhaus im Edelweißweg 1 gibt es noch. Gewaschen wird darin aber selten. Stattdessen dient es dem „Familienunterstützungsteam Eisenbahnerviertel” als Büro, Treffpunkt und Anlaufstelle. Zwei Sozialpädagogen unterstützen dort Eltern, Kinder und Jugendliche bei familiären Problemen, Erziehungsfragen und Behördenangelegenheiten.
Der Eidelstedter Platz ist anders als die Osterstraße
Die Eisenbahn verschwindet. Manche haben sie längst vergessen oder nie kennengelernt. Eisenbahnerviertel? Michelle weiß nicht, dass das Viertel so heißt. Ihr Ellenbogen stützt auf einem der Cola-Stehtische, eine schwarze Maske verdeckt ihr Kinn. Seit zwei Monaten arbeitet die 14-Jährige als Praktikantin im Supermarkt.
Der Bezug zur Eisenbahn ist längst weg, sagt auch eine Mutter im Hilpertweg. Während ihre dreijährige Tochter auf einer der Spielplatz-Inseln im Viertel buddelt, schiebt sie ihren einjährigen Sohn durch den Schatten. Ab und zu ruft die Kleine „Mama”, sonst ist es still.
Manchmal spielen mehr Kinder hier, sagt die junge Frau. Ihre schwarzen Haare fallen ihr über die Schulter, als wären sie gerade vom Friseur drapiert worden. Eigentlich kommt sie aus Eimsbüttel, vor acht Jahren ist sie ins Eisenbahnerviertel gezogen. „Am Anfang wusste ich nicht so richtig”, beginnt sie zu drucksen. Der Eidelstedter Platz ist anders als die Osterstraße. Hier im Eisenbahnerviertel gefällt es ihr aber – vor allem jetzt mit den kleinen Kindern. Viel Ruhe, viel Grün, viele Familien, eine Kita im Redingskamp, Kinderturnen beim SV Eidelstedt.
Andere Treffpunkte? Eigentlich keine, sie hat aber auch nie danach gesucht. Die zweifache Mutter hat eine große Familie, viele Freunde. Mit ihren Nachbarn versteht sie sich gut, die passen auch mal kurz auf die Kleinen auf. Und sonst? „Vorm Supermarkt sitzen immer ein paar Männer”. Sie geht nur selten hin – für Kleinigkeiten. Was sie im Eisenbahnerviertel hält: die Ruhe, das Grün, die drei Zimmer für 900 Euro.
„Ohne den Laden ist das Viertel tot.“
Stadtflucht ins Eisenbahnerviertel? Für junge Familien scheint das attraktiv. Dass das zu mehr Anonymität führt, weiß auch Michi, der Bürgermeister mit der schwarzen Kappe. Im Supermarkt versucht er das zu verhindern: Er grüßt, wenn jemand vorbeiläuft, redet mit Schülern, die sich in ihrer Pause ein Kratzeis mit Kirschgeschmack kaufen. „Ohne den Laden ist das Viertel tot”, sagt er und rückt seine Schildmütze zurecht.