
„Vergiss Pinneberg“
Was sagt es über Eimsbüttel aus, dass das Theater N.N. nach elf Jahren im Stadtteil wegzieht? Mehr, als wir auf den ersten Blick meinen.
Von Florian PretzWenn Dieter Seidel vom Abschied aus Eimsbüttel spricht, passiert das ohne Wehmut. Seine Augen glänzen, die Falten um den Mund formen ein Lächeln. Bange scheint dem kauzig daherkommenden Theatermacher vor der Zukunft in Pinneberg nicht zu sein. Dafür hat er in seinem Leben zu viel mitgemacht – in der DDR aber auch in Hamburg.
Nach elf Jahren im Hellkamp stehen Seidel und sein Theater N.N. ohne eigenen Saal da. Geprobt wird in Zukunft vor den Toren der Stadt. „Mit dem Auto dauert die Fahrt aber nur 15 Minuten aus Eimsbüttel“, sagt Seidel, während er rauchend zwischen Requisiten und zusammengelegten Kostümen sitzt. 20 Wagenladungen hat er mit seinen Helfern schon nach Pinneberg gebracht. Chaotisch sieht es im Theater aber immer noch aus.
25 Zuschauer pro Vorstellung
Der Grund, weshalb Seidel gerade täglich Bananenkisten, Körbe und Kartons packt, ist denkbar einfach und trotzdem kompliziert. Die finanzielle Förderung der Kulturbehörde ist ausgelaufen. 3000 Euro Miete, jeden Monat. Das waren die Fixkosten, die die Stadt abdeckte. Die Einnahmen des Theaters durch knapp 25 Zuschauer pro Vorstellung waren zu niedrig. „Bei uns gibt’s halt keine leichte Kost“, sagt Regisseur und Theater-Gründer Seidel. „Aber das soll auch so sein“.
Denn das N.N. ist ein sogenanntes Off-Theater – etwas mehr als eine Handvoll gibt es davon in Hamburg. Sie bieten jungen Schauspielern eine Bühne. Statt Shakespeare oder Schiller zeigen sie Stücke mit Titeln wie „Der Euro vor Karstadt“. Off-Theater repräsentieren die künstlerische Vielfalt in der Stadt, genau das also, was auch die Kulturbehörde fördern will.

Vier Jahre lang profitierte das N.N. vom Geld der öffentlichen Hand. Bis die Förderbedingungen verschärft wurden. Mindestens 50 Prozent Auslastung, sonst gibt es kein Geld mehr. In den vergangenen drei Jahren ist das N.N. mit seinen knapp 50 Plätzen an dieser Hürde gescheitert. Mal deutlich, zuletzt sehr knapp. Wirklich überrascht konnte Seidel also nicht sein, als er die bittere Nachricht von der Kulturbehörde erhielt.
„Geld der Behörde hat die Arbeit bequemer gemacht“
„Soll ich weitermachen?“ – das hat sich Seidel nur einen kurzen Moment gefragt. Dann stand die Entscheidung fest: Wir gehen wieder auf Wanderschaft. So wie vor der Zeit in Eimsbüttel, wie vor 2002. Damals spielten sie auf Kuhweiden, in Kellergewölben oder im knietiefen Wasser. „Eigentlich hatte ich mich ziemlich rasch von Eimsbüttel verabschiedet. Die Vorfreude auf das Nomadenleben war einfach zu groß.“
„Vergiss Pinneberg“, sagt Seidel, dort soll nur der Ausgangspunkt für Touren durch die Stadt sein, nicht der neue Standort des N.N. Wo gespielt wird, das findet sich schon, da ist sich Seidel sicher. Und die Fans des Theater N.N. werden ihn und seine Kompanie schon irgendwie finden.
Existenzangst habe er nicht. 2006 war das anders. Damals stand das Theater ebenfalls vor dem Aus. Geld aus der öffentlichen Hand gab es noch nicht. Ein Mäzen sprang in letzter Sekunde ein und rettete Seidels Truppe. Im Vergleich zu damals sei die Lage dieses Mal weniger dramatisch gewesen. „Das Geld der Kulturbehörde hat das Arbeiten bequemer gemacht, uns von finanziellem Druck befreit. Wir konnten unseren Schauspielern Gagen bezahlen und hatten mehr Zeit, uns um unsere Inszenierungen zu kümmern“, sagt er, während er die Treppen zum ehemaligen Theatersaal heraufsteigt.
Die nächste Premiere ist am 18. Juli
Dieter Seidel ist Pragmatiker, aber auch Idealist. Ihm geht es um anspruchsvolle Stoffe – unbequem, nicht für ein breites Publikum. Schlimm findet er den anstehenden Umzug deshalb nicht, weil nun eine große Ladung Druck abfalle. Ein eigenes Haus muss regelmäßig bespielt werden. Leere Plätze können nicht mit schlechtem Wetter oder mangelnder Werbung erklärt werden. Eigentlich hätten die Menschen das Theater ja kennen und finden müssen. „Viele Bewohner in Eimsbüttel nehmen uns jetzt, wo wir gehen, zum ersten Mal wahr.“ Dieter Seidels Worte klingen verbittert. Das erste und einzige Mal während des Gesprächs. Als wäre er verletzt, dass ihn die Nachbarn oft ignorierten.
Oben im Saal angekommen ist dieser kurze Moment wieder vorbei. Das Glänzen in seinen Augen ist wieder da. Und der Arbeitseifer. Alles sieht nach Aufbruch aus: zusammengeschobene Stühle, abmontierte Bühnenbeleuchtung, gerollte Werbeplakate. Und trotzdem wird hier geprobt. Leonce und Lena, der Büchner-Klassiker. Am 18. Juli ist Premiere im Römischen Garten in Blankenese.
„Eimsbüttel ist schöner geworden – und etablierter“
Bis dahin darf Seidel mit seiner Truppe noch in den alten Räumen bleiben, dann muss alles raus sein. „Wenn man nach so langer Zeit umzieht, muss man sich von Vielem trennen“. Knapp 60 Prozent der Bestände des Theaters müssen weg. Requisiten, Kostüme, Geschirr aus der Bar. Über die Jahre hat sich einiges angesammelt. Seidel schiebt seine schwarze Kappe aus dem Gesicht und schickt Leonce und Lena zum Umziehen. In fünf Minuten geht die Probe los.

Während Seidel auf die beiden Hauptdarsteller wartet, blättert er im Text. Nein, dieser Mann wirkt nicht verbittert, weil er sein Theater verlassen muss. Oder seinen Stadtteil. „Eimsbüttel ist in den vergangenen elf Jahren schöner geworden“, sagt der Regisseur. Aber auch etablierter.
Vielleicht war das der Grund, weshalb erst die Zuschauer wegblieben und dann nur wenige für das Theater N.N. auf die Barrikaden gingen. Dass aus Eimsbüttel in Seidels Wahrnehmung im letzten Jahrzehnt ein ruhigerer Stadtteil geworden ist, ist vielleicht die Erklärung für das Glänzen in seinen Augen, wenn er von der Zukunft als Wanderkompanie spricht. Establishment und Off-Theater passen nicht zusammen. Deshalb werden wahrscheinlich weder Eimsbüttel noch Seidel die Trennung als echten Verlust empfinden.