Bühne statt Schulbank: Peinlich ist hier nichts
Am Emilie-Wüstenfeld-Gymnasium hat das Unterrichtsfach „Theater” eine so große Bedeutung wie an kaum einer anderen Hamburger Schule. Über die Wirkung des Theaters auf junge Menschen.
Von Christiane TauerTheaterunterricht: „Haltet die Pose aus!”, ruft Florian Lampe in die Gruppe hinein. Und dann, als die 19 Jungen und Mädchen weitergehen, mahnt er: „Kein Drehen im Fokus-Gang!”
Die Schüler verlangsamen ihre Schritte, durchschreiten den Raum, strecken ihre Arme in die Höhe, sacken zusammen. Einige gehen in die Hocke, legen sich hin, finden in Zweiergruppen zueinander und lösen das Ganze in Bewegungen wieder auf. „Kommt jetzt zum Abschlussbild”, sagt der Lehrer, „uuund halten.”
Es ist kurz nach acht an einem Herbstmorgen im Emilie-Wüstenfeld-Gymnasium. Der Theater-Oberstufenkurs hat sich aufgewärmt.
Was für Außenstehende wie ein unverständliches Durcheinander wirkt, hat System. Es ist eben nicht Chemie oder Geographie, was auf dem Stundenplan steht, sondern „Darstellendes Spiel”. Hier rücken Körpersprache, Emotionen und die Bedeutung von Wörtern in den Mittelpunkt.
Der Theaterschwerpunkt lockt neue Schüler an
Damit sich die Jugendlichen besser kennenlernen, läuft am Anfang des Schuljahres die Aufwärmphase. Etwa ein Drittel von ihnen hat erst zur elften Klasse auf das EWG – so die Kurzform der Schule – gewechselt. Viele vor allem wegen des großen und für Hamburg ungewöhnlichen Theater-Angebots.
Einer dieser Wechsler ist Filippo, dunkle Locken, selbstbewusstes Auftreten. Seit einem Jahr spielt der 17-Jährige im Backstage-Jugendclub des Schauspielhauses, davor hat er viele Jahre in einem Zirkus mitgemacht. „Ich liebe die Bühne”, sagt er. Filippo ist sich sicher: Das Schauspiel wird immer ein Teil seines Lebens bleiben, egal ob als Hobby oder womöglich als Beruf.
Um seiner Leidenschaft nachzugehen, hat er sich zu einem Wechsel vom Altonaer Allee-Gymnasium aufs EWG entschieden.
Seltenheit in Hamburger Schullandschaft
Hier gibt es als Teil des Oberstufenprofils „Ästhetisches Begreifen” vier Unterrichtsstunden im Fach Theater. Das bedeutet, dass die Schülerinnen und Schüler nicht nur eine mündliche, sondern auch eine schriftliche Abiturprüfung in dem Fach ablegen können. In der Hamburger Schullandschaft ist das keinesfalls die Regel.
Die Relevanz, die das Fach Theater mit seinen 17 Theaterlehrerinnen und -lehrern am EWG hat, könnte auch an Florian Lampe liegen. Er ist Fachleiter Theater an der Schule und hat an den Bildungsplänen der Hamburger Schulbehörde für das „Darstellende Spiel” mitgewirkt.
Wenn er einen Satz sagt wie „Das Theater fördert die ästhetische Bildung”, ist das nicht nur Theorie. In seiner täglichen Arbeit am EWG füllt er den Satz mit Leben und sieht die direkte Wirkung auf die Jugendlichen.
Aber wie sieht diese Wirkung aus? Was macht das Theater mit den Schülerinnen und Schülern? Um das zu erfahren, muss man den Aufbau des Fachs Theater am EWG verstehen.
Ein Text wird in eine Choreographie verwandelt
Am Anfang steht das Kennenlernen und Vorbereiten. Inhaltlich lernen die Jugendlichen Schauspieltheorien, in der Praxis geht es um das „Einfühlen in das Spiel”, wie es Lampe ausdrückt. Wie dieses „Einfühlen” funktioniert, zeigt die Übung, die in der Studiobühne nach dem Aufwärmen an der Reihe ist.
Der Lehrer verteilt Zettel. Einen Text über einen eingeengten Samen, der sich aus der Hülle befreit und in seiner schönsten Gestalt offenbart. Die Jugendlichen sollen je zwei Zeilen des Textes in eine Choreographie verwandeln.
Er teilt den Kurs in drei Gruppen auf. Die Mädchen und Jungen stecken ihre Köpfe zusammen und diskutieren. „Leute, wir müssen uns entscheiden”, mahnt ein Junge. In der anderen Gruppe fragt einer: „Und was ist unser Signal für die Bewegung?” In der dritten Gruppe herrscht Unzufriedenheit. „Das ist doch viel zu asynchron”, kritisiert ein Schüler.
„Das Sich-Schämen muss man beim Theater hinten anstellen”
Nach und nach zeichnen sich Ergebnisse ab. Dann, nach 15 Minuten, ruft der Lehrer den Kurs zusammen. Der Reihe nach führen die Gruppen ihre Choreographie auf. Einmal ganz ohne Worte, einmal sprechen sie die Zeilen mit. Die Gruppe stellt fest: Ohne Text sind die Bewegungen sauberer, synchroner, bedächtiger. Das „Einfühlen” ins Spiel, es hat stattgefunden.
Für die Jugendlichen ist das Schauspielern anfangs eine Überwindung. „Das Sich-Schämen muss man hinten anstellen”, sagt Elena, 17. Peinlich darf einem auf der Bühne nichts sein, und einschüchtern lassen sollte man sich auch nicht. Sie selbst hat vorher noch nie etwas mit Theater zu tun gehabt, sie kommt vom Tanz. Immerhin ist sie dadurch mit Bühnensituationen vertraut.
Ihre Mitschülerin Malu hingegen schätzt das Theater aufgrund seiner kulturellen Bedeutung. Den Unterricht sieht die 16-Jährige deshalb als Bildungsbereicherung.
Der Lehrer als Impulsgeber
Ist die erste Phase des Schuljahres abgeschlossen, soll der Kurs das Thema des ersten Projekts finden. Als Lehrer sieht sich Florian Lampe dabei nicht als Regisseur, der das Thema bestimmt, sondern als Impulsgeber, der Ideen liefert.
Und welches Stück kommt auf die Bühne? Die Auswahl reicht von der dramatischen Textvorlage bis zur Eigenproduktion. Denkbar ist ebenfalls, sich an die Produktion eines Hamburger Theaters anzudocken. „Manche Schulen orientieren sich beim Fach Theater thematisch am Deutsch- oder Geschichtsunterricht”, sagt der Lehrer. Alles ist möglich. Insgesamt soll der Kurs zwei mittelgroße Produktionen erarbeiten.
„Wir bewerten kein Talent”
Lampe erklärt, dass das Theater am EWG bei aller kreativer Freiheit auch ein Unterrichtsfach ist, das im Abitur benotet werden muss. Dabei gilt: „Wir bewerten kein Talent.”
Wichtig sei, den Theaterkurs nicht mit Schauspielunterricht zu verwechseln. Vielmehr gehe es um Grundlagen, und die werden in den Elementen Körper, Raum und Zeit dargestellt. Das heißt: Bei „Körper” geht es um die stimmliche und nicht-stimmliche Körpersprache und Figur, bei „Raum” um Spielort, Bühnenbild, Requisiten und Medieneinsatz, und bei „Zeit” um Spielzeit, Timing und Rhythmus.
Demokratie durch Theater erleben
Theaterarbeit, das wird durch die Worte des Lehrers klar, ist ein ständiges Wanken, Zweifeln, Verwerfen und spontanes Erproben. Die Jugendlichen müssen dies aushalten und für sich einen Weg finden. „Theater ist ein kreativer Prozess”, sagt Florian Lampe und nennt dann ein Wort, das er eigentlich nicht gerne verwenden will: ganzheitlich. „Das ist es aber nun mal, weil es so viele Bereiche berührt.”
In der Gruppenarbeit müssen die Schüler viel Ausdauer haben, sich ein gemeinsames Ziel setzen und alles zusammen durchziehen. Reflexion, Feedback geben und dabei respektvoll miteinander umgehen – auch das spielt eine große Rolle. Dabei kommen permanent demokratische Prozesse zum Einsatz. Etwa wenn es um das Aushandeln des Ablaufs geht. „So wird Demokratie ganz praktisch erlebbar gemacht.”