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Unterwegs mit Touareg Jamal. Foto: Reiss-aus-Team.
Magazin #12

Durchgedreht und abgefahren: Von Eimsbüttel nach Afrika

Wovon viele nur träumen, das haben sich Lena und Ulrich getraut. Sie lassen die Eimsbütteler Altbauwohnung hinter sich und machen sich auf in Richtung Südafrika. Angekommen sind sie dort nie. Die Erlebnisse ihrer Abenteuerfahrt verarbeiten sie nun in einem Film. (Ein Beitrag aus unserem Magazin #12)

Von Nele Deutschmann

Lena Wendt und Ulli Stirnat ziehen sich eher durch Gegensätze, denn Gemeinsamkeiten an. Sie: abenteuerlustig, spontan, chaotisch. Er: durchgeplant, ein wenig verkopft und ruhebedürftig. Frisch verliebt zieht das Paar 2013 schon nach wenigen Monaten in der Bismarckstraße zusammen. Sanierter Altbau, neue Möbel, tolle Jobs – so weit, so gut. Dann bekommt Ulrich ein Burnout. Schnell beginnt der Medizintechniker mit einer Therapie und entschließt sich schließlich zur Kündigung. Veränderung muss her.

„Wir hatten die Wohnung gerade im Dezember bezogen und im Februar, März war klar: Wir hauen ab. Afrika war immer mein Traum. Seit ich das erste Mal da war, musste ich immer wieder hin“, erzählt Lena, während sie sich eine Nudelpfanne kocht und die beiden Hunde des Paares schwanzwedelnd um ihre Beine streifen. Gerade kommt sie vom frühmorgendlichen Yoga in der Schanze zurück. Das macht hungrig.

Sie kaufen einen Geländewagen und Ulrich baut ihn aus. Der Plan: Mit dem Land Rover die Westküste Afrikas entlang fahren und sich danach nebst Auto nach Südamerika verschiffen lassen. Eine Weltreise wollten sie machen, die grob ein Jahr dauern sollte. „Ich hatte genaue Vorstellungen, wo ich überall hin möchte“, erzählt die Fernsehjournalistin. Am Ende kam alles anders.

675 Tage, 46.000 Kilometer, 17 Pannen, 9 Nerven­zusammenbrüche

46.000 Kilometer haben sie zurückgelegt. Nach Südamerika sind sie nie gekommen. Und auch in Afrika legten sie nur etwa ein Drittel der vormals geplanten Strecke zurück.

Im Oktober 2014 geht es los. Lena kündigt ihren Job beim NDR und sie besteigen ihren alten Land Rover, der mit einem 40 Jahre alten Dachzelt, ein Geschenk von Ullis Patentante, bestückt ist und der besser in die afrikanische Steppe als nach Eimsbüttel passt. „Wir sind schnell aus Eimsbüttel los, durch Europa gekracht und gefühlt ging die Reise erst auf der Fähre nach Marokko los“, erzählt die 32-Jährige. Langsam entwickelt sich das Bewusstsein: Dieses Mal geht es nicht nach ein paar Wochen zurück. Dieses Mal ist es kein Urlaub. Dieses Mal ist es eine Reise. Eine Reise zweier sehr unterschiedlicher Menschen.

Ulrich: „Ich bin ein sehr verkopfter Mensch. Ich brauche immer einen Plan und habe ein unheimlich überdimensioniertes Verantwortungsgefühl.“ Lena: „Er ist der Kümmerer und der Planer und ich bin halt das Chaos und der Nonplaner. Ich gucke gerne, was passiert. Daran wäre Ulli fast durchgedreht. Und ich wäre fast an Ulli durchgedreht.“ Auf zwei Quadratmetern lernt man sich ziemlich intensiv kennen und was das Paar unterschätzt hat: Ulrichs Burnout war allein durch den Ausstieg nicht erledigt. Seine Probleme nimmt man auch auf eine Reise mit. Der 32-Jährige hat mit vielen Ängsten zu kämpfen, was Lena wundert. „Ich konnte seine Ängste zu Anfang nicht ernst nehmen“, berichtet sie. Selbst die Buschtoilette wurde zum Problem – sich nachts von einer Kobra in den Hintern beißen zu lassen, kam für Ulli nicht in Frage.

Kein Entspannungsurlaub

Schnell reift die Erkenntnis: Eine solche Reise ist kein Entspannungsurlaub. Es ist Arbeit und Afrika nicht Eimsbüttel. Man stößt auf Frustrationspotential, Hunger, schlecht ausgebaute Straßen, Ungeziefer und Unwägbarkeiten aller Art. Das Paar wächst in Rollen hinein – Ulli kümmert sich ums Auto, Lena kocht und kauft ein. „Letztlich sind wir in relativ traditionelle Rollen reingerutscht, die gar nicht mal so gut für uns waren“, konstatiert Ulli. Er ist vielfach überfordert. Das Auto bedarf dauerhafter Pflege und wenn sie nach langen Fahrten in einem Dorf Halt machen, werden sie sofort von Neugierigen umringt. Wenn sie einfach nur etwas essen und sich mal waschen wollen, finden sie keine Ruhe. Das ganze Dorf kommt „Hallo“ sagen. Lena genießt den Austausch, Ulli ist gestresst.

Er flüchtet sich in Bücher und zieht sich zurück, was Lena nicht verstehen kann: „Wir reisen doch und du schaust nicht mal hin!“ Die Situation ist verfahren und die Reise wird zur Zerreißprobe. Gegenseitiges Unverständnis und Gereiztheit schlagen auf die Stimmung und mehrfach sind sie an dem Punkt, getrennte Wege zu gehen. Alle Papiere sind jedoch auf Ulli ausgestellt und Lena kommt ohne ihn über keine Grenze. Immer wieder raufen sie sich also zusammen. Oft ist es mehr ein einander Aushalten, denn ein Zusammenhalten.
Abhilfe kommt von unerwarteter Seite. Ein kleiner Welpe stößt zu ihnen. Plötzlich sind sie gezwungen, Routine an den Tag zu legen und zwölf Stunden am Stück Auto zu fahren ist nicht mehr drin. Zwangsläufig kommt es zu Pausen, die allen gut tun und es gibt wieder gemeinsame Aufgaben – das verbindet.

Die Hosen runter lassen

Lena und Ulrich lernen sich ganz neu kennen. „Wir haben im wahrsten Sinne die Hosen voreinander runtergelassen“, lacht Ulli. Denn von dem Gedanken, dass gemeinsames Reisen romantisch sei, müsse man sich verabschieden. Hand in Hand beim Sonnenuntergang am Meer spazieren? Die Realität sieht oft anders aus.

Es fehlen ihnen die Alternativen, sich mit anderen Menschen abzulenken und auszutauschen. Wegen des damals grassierenden Ebolavirus sind viele Gebiete leerer als sonst oder nicht zugänglich und oft gibt es keinen einzigen weiteren Touristen. Gespräche mit anderen Reisenden bleiben also aus. Erst nach Monaten der Reise treffen die beiden in Gambia auf zwei Schweizer, die wie eine Kopie ihrer selbst wirken: Ein Paar, ein Hund, das gleiche Automodell. Sie treffen genau an einem Punkt aufeinander, an dem Ulli kurz davor ist aufzugeben. Sie begegnen sich immer wieder, beginnen streckenweise zusammen zu reisen und ziehen sich gegenseitig mit. Mittlerweile sind die Schweizer Eltern geworden und haben ihr Kind nach dem Auto von Lena und Ulli benannt: Terés.

Das Auto selbst hat die Reise durch insgesamt 14 afrikanische Länder nicht überlebt. Das Innere ist nach Wochen des Regens in der Regenzeit geschimmelt und es hat sich gezeigt: Land Rover oder generell Autos, in denen man nicht stehen kann, sind für Langzeitreisen nicht geeignet. Wenn es wochenlang nicht aufhört zu regnen und man sich tagein, tagaus zu zweit in einem Dachzelt aufhalten muss, in dem man nicht einmal stehen kann, weiß man, was absolute Nähe bedeutet.

„Erst da erkannte ich, welches Geschenk diese Reise war“

Lena und Ulli fahren bis nach Ghana – Ulli will umdrehen, Lena weiterfahren. Sie entscheiden sich dafür zu bleiben und beginnen, in einer Eco-Lodge zu arbeiten. Es ist Zeit für eine Pause, doch Ullis Burnout und die Depression holen ihn wieder ein. Er sucht Abstand und fliegt über Weihnachten zurück nach Deutschland, besucht Freunde und Familie, während Lena alleine in Ghana zurückbleibt. Sechs Wochen hält er es zuhause aus und muss feststellen: „Zuhause hat sich nichts verändert, ich wurde wieder genau an den alten Ort hinein verfrachtet und habe aber selbst gar nicht mehr da rein gepasst.“ Er fühlt sich fremd, denn ohne es zu bemerken, hatte die Reise ihn verändert. Das gehetzte Leben in Hamburg erschreckte ihn nun.

Die Lektion, die Ulli gelernt hat: Abstand ist gut und wichtig, um reflektieren zu können. Nach den sechs Wochen brennt er darauf weiterzureisen. „Erst da erkannte ich, welches Geschenk diese Reise war“, erzählt er. Das war eine Erfahrung, die Lena ihm bereits voraus war: „Immer wenn du gehst, hinterlässt du eine Lücke und in diese Lücke wirst du wieder hineingesteckt, wenn du wiederkommst. Auch wenn du gar nicht mehr hineinpasst.“ Sie selbst suchte auf der Reise nach anderen Dingen.

Sie wollte lernen, sich selbst wieder zu spüren: „Ich glaube, viele von uns haben nicht gelernt, auf ihr Gefühl zu hören. Wir funktionieren unglaublich gut, wachsen mit dem Gedanken auf, produktiv sein zu müssen und sich Sicherheiten zu schaffen.“ Das Schlimmste, was demnach passieren könne, sei, diese Sicherheit zu verlieren. Schon immer habe sie versucht, diese Paradigmen zu brechen, an ihre Grenzen zu gehen, sich Ängsten auszusetzen. Auf Reisen lernte sie, achtsam mit sich zu sein, aber kaum wieder zuhause angekommen, war das Gefühl meistens wieder verschwunden.

Sehnsucht nach Ruhe

Nach Benin dreht das Abenteuerpärchen um, da sie kein Visum für Nigeria bekommen und langsam alles kaputt zu gehen beginnt: „Das Auto fiel auseinander, Ulli fiel auseinander, ich wurde krank.“ Auf dem Rückweg fahren sie durch die Ebola-Gebiete, die sie auf dem Hinweg noch nicht passieren konnten. Aber nun geht es Lena nicht gut. Der Gedanke, zurück nach Deutschland zu gehen, macht sie tieftraurig. Sie betritt die Fähre nach Europa nur mit Ullis Versprechen, dass sie ihre Sachen verkaufen, die Eimsbütteler Wohnung auflösen und nach Marokko zurückkehren.

Bereits nach zwei Monaten setzen sie dieses Vorhaben in die Tat um und reisen zurück nach Afrika, wo sie gemeinsam den Winter in Marokko verbringen. Nach einem halben Jahr kommen sie wieder zurück nach Deutschland und während Ulli dieses Mal bleibt, fliegt Lena direkt wieder zurück nach Afrika: an die Elfenbeinküste in ihr Lieblingsdorf.

Über zweieinhalb Jahre des gemeinsamen Reisens liegen zu dem Zeitpunkt hinter dem Paar, die sie ganz intensiv miteinander verlebt haben. Es scheint an der Zeit, mal wieder getrennt voneinander Dinge zu erleben. Die Sehnsucht nach Abstand und Ruhe macht sich breit. Was Lena in dieser Zeit gelernt hat: sich selbst zu spüren, das findet sie nicht im Außen. „Das finde ich nur im Innen“. Nach ihrer Zeit in Marokko beginnen beide, sich mit Meditation auseinanderzusetzen. Sie versuchen Vipassana – die Meditationsform mit der Buddha angeblich zu Erleuchtung gefunden hat. Mindestens zehn Tage lang wird meditiert und geschwiegen. Eine prägende Erfahrung, die sich einreiht in die Versuche, das wohlige Gefühl, das sie beim Reisen erleben, festzuhalten.

Der Film – Afrika fernab von der Klischee­berichterstattung

Während ihrer Tour betrieben Lena und Ulli einen Reiseblog, machten Fotos und Filmaufnahmen für Freunde und Familie, um zu zeigen, wie schön Afrika ist und um Vorurteile abzubauen. Es wurde ein Hobby daraus, in allen Ländern kleine Videos zu drehen und so entstanden in den Jahren Unmengen an Filmmaterial. Aber auch schon während der Reise kam der Gedanke auf, wie es nach der Rückkehr weitergehen soll. Zurück in Deutschland sahen sie die Filme „Expedition Happiness“ und „Weit“. Nach und nach reifte der Entschluss, ebenfalls einen Film aus dem Material zu erarbeiten.

Crowdfunding sollte das nötige Geld generieren, um den Film zu schneiden, die Musik zu komponieren, Grafiken zu erstellen, das Equipment zu kaufen. Die Sache nahm Fahrt auf. Viele Freunde halfen mit und sind noch immer mit Leidenschaft dabei. Helge Dube produzierte den Soundtrack zum Film, Sebastian Bluhm kümmerte sich um den Schnitt, Tobias Taskin war für die Tonmischung verantwortlich, Simone Weber für das Sounddesign und Philipp Möller war als Grafiker mit an Bord. Ähnlich wie auf ihrer Reise arbeiteten sich Lena und Ulli Stück für Stück näher ans Ziel, lernten inspirierende Menschen kennen, erfuhren Unterstützung und kreative Zusammenarbeit.

Vortragstour

Mittlerweile ist der Film fertig und Lena und Ulli befinden sich auf einer organisierten Vortragstour. Voraussichtlich kann „Reiss aus. Zwei Menschen. Zwei Jahre. Ein Traum.“ dann bald auf Festivals und irgendwann in den Kinos geguckt werden. Schon beim Crowdfunding wurde bei jeder verkauften Filmversion an wohltätige Projekte, die dem Paar unterwegs in Afrika begegnet sind, gespendet. Auch mit jeder verkauften DVD sollen diese Projekte weiter unterstützt werden – mit der Sicherheit, dass das Geld eins zu eins ankommt.

Was danach geschehen soll? „Mal schauen“, lachen Lena und Ulrich. Ganz in die alten Strukturen zurückzukehren, können sie sich nicht vorstellen. Im Moment wohnen sie in Ammersbek bei einem Freund. Die Eimsbütteler Wohnungspreise könnten sie sich im Moment nicht leisten und wollen es auch nicht mehr. „Vorher haben wir 1.500 Euro Miete gezahlt. Jetzt fließt alles in den Film“, sagt Lena. Das sei etwas, was sie verstanden habe: Nie wieder wolle sie nur für ihre Miete arbeiten. So teuer zu wohnen ist keine Option mehr.

Auf ihrer Vortragstour durch Deutschland, Österreich und die Schweiz wollen Lena und Ulli ihre zahlreichen Eindrücke persönlich näher bringen und ein anderes Bild von Afrika vermitteln. Für Hamburg gibt es einen Zusatztermin auf ihrer Tour: Am 29. Oktober um 20 Uhr findet der Erlebnisvortrag zu „Reiss aus“ im Haus 73 statt.

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