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"Es wird lauter werden": Okan Türkyilmaz befürchtet, dass Erdogan-Anhänger auch in Eimsbüttel Stimmung gegen Gülen-Sympathisanten machen. Foto: Matthias Berger
Gülen-Anhänger im Interview

„Was Hitler in Deutschland gemacht hat, macht Erdogan nun in der Türkei“

Der Putschversuch in der Türkei hat auch Auswirkungen auf die in Eimsbüttel lebenden Türken. Vor allem Anhänger des Predigers Fethullah Gülen und seiner Hizmet-Bewegung haben Angst – warum, erklärt der Vorsitzende der Hizmet-Einrichtung Forum Dialog Hamburg, Okan Türkyilmaz, im Interview.

Von Matthias Berger

Herr Türkyilmaz, inwiefern hat sich die Situation durch den Putsch in der Türkei für Sie hier in Eimsbüttel verändert?
Wir haben innerhalb von drei Tagen acht Kündigungen von Mitgliedern erhalten. Auf Nachfrage hieß es: „Ich habe Familie und Freunde in der Türkei.“ Oder: „Ich mache Geschäfte in der Türkei.“ Die Menschen haben Angst, ihre Familien oder Geschäftsbeziehungen zu gefährden, weil sie Gülen oder der Hizmet-Bewegung nahestehen. Das wird in der Türkei als Landesverrat gesehen.

Wie beurteilen Sie die Reaktion der deutschen Regierung auf die Geschehnisse in der Türkei?
Ich verstehe die deutsche Regierung. Sie will das Flüchtlingsproblem lösen und ist dadurch an Erdogan gebunden. Das hat es Erdogan leicht gemacht. Was ich nicht verstehen kann ist, dass Menschen, die seit 40, 50 Jahren hier leben, hier alle Möglichkeiten der Demokratie haben, immer noch hinter einem Möchtegern-Diktator stehen.

Woran liegt das Ihrer Ansicht nach?
Erdogan hat den Deutschtürken viel Selbstbewusstsein gegeben, durch seine Auftritte als starker Staatsmann. Die unterdrückten Deutschtürken fühlen sich mit Erdogan stärker. Dabei darf man nicht vergessen: Die Gastarbeiter sind nur nach Deutschland gekommen, weil es ihnen in der Türkei nicht gut ging, weil sie unterdrückt wurden. Erdogan spielt mit diesem Minderwertigkeitskomplex. Erdogan nutzt die Außenpolitik geschickt für seine Innenpolitik.

Gibt es in ihrem Bekanntenkreis Diskussionen über das Thema? Oder sind die Lager der Erdogan-Anhänger und Gegner strikt getrennt?
Bei sogenannten „Weißtürken“, also den Kemalisten, die aus den türkischen Großstädten stammen, und „Schwarztürken“, also gläubigen Einwanderern aus Anatolien, ist diese Schnittstelle nicht da. Bei Erdogan-Anhängern und Gülen-Sympathisanten ist der Glaube die Schnittstelle. Anatolien ist das Hinterland der Regierungspartei AKP. Und aus Anatolien sind die meisten Gastarbeiter nach Deutschland gekommen. Deshalb hat Erdogan von den hier lebenden Türken bei den letzten Wahlen 60 Prozent der Stimmen bekommen. Auch die Mitglieder der Hizmet-Bewegung in Deutschland haben überwiegend anatolische Wurzeln.

Wie ist der Bruch zu erklären?
Die Gülen-Bewegung wollte die Demokratisierung der Türkei fördern und hat deshalb jahrelang Erdogan unterstützt. Erdogan hat versprochen, den Weg zu Europa und zu einer weiteren Demokratisierung zu öffnen. Seit 2011 sehen wir, dass er seine Versprechen nicht umsetzt. Er hat nur Gesetze geändert, um die Justiz besser kontrollieren zu können. Und er hat einfach Personen ausgetauscht. Er hat das, was die Kemalisten gemacht haben, auf seine Weise wiederholt.

Warum hat sich Erdogan denn so auf Gülen und die Hizmet-Bewegung eingeschossen?
Weil er der beste Sündenbock ist. Einen besseren Feind kann man sich nicht aussuchen, als einen in den USA lebenden Prediger. Westländer werden in der Türkei immer negativ angesehen. Gülen hat jahrelang Dialog propagiert. Deshalb sagt Erdogan: „Die wollen uns verwestlichen, verchristlichen.“  Zudem hat Gülen über seine Zeitungen und Fernsehkanäle Kritik an Erdogan geäußert. Kritik aus den eigenen Reihen, von muslimischer Seite, konnte Erdogan nicht ertragen. Im muslimischen Hinterland hat er befürchtet, Stimmen zu verlieren. Das, was Hitler vor 80 Jahren in Deutschland gemacht hat, macht Erdogan nun in der Türkei. Er ruft zum Boykott von Hizmet-Geschäften auf, hat 100.000 Menschen inhaftieren lassen, auch wenn sie nur einen Kaffee in einer Hizmet-Einrichtung getrunken haben.

Im Internet sind schwarze Listen veröffentlicht worden, auf denen Gülen-nahe Geschäfte und Einrichtungen in Deutschland aufgeführt sind. Wie groß ist Ihre Sorge, dass auch das Forum Dialog auf einer solchen Liste landet?
Die meisten Türkeistämmigen sind derzeit im Urlaub in der Türkei. Wenn die zurückkommen, werden die Listen noch verlängert. Da werden noch einige Namen drauf kommen.

Glauben Sie, dass es in Deutschland nochmal richtig krachen könnte?
Richtig krachen nicht, aber es wird lauter werden.

Was kann man sich darunter vorstellen?
Was wir in Baden-Württemberg erlebt haben, wird auch in Hamburg passieren. Die Türen der Moscheen werden bekritzelt werden: „Eintritt für Landesverräter verboten!“ oder Boykottaufrufe an Geschäften: „Du sollst nicht bei Landesverrätern einkaufen!“

Inwiefern zieht sich die Spaltung durch Familien und Freundeskreise?
Auch in meiner Familie gibt es Erdogan-Anhänger. Wir telefonieren nicht mehr so oft, wir besuchen uns nicht mehr so oft. Es gibt Spaltungen, und die Spaltungen könnten noch größer werden.

Wie können die Menschen wieder zueinanderfinden?
Gülen sagt, dass wir verzeihen sollen und den Menschen nicht übel nehmen sollen, was in der Türkei passiert. Aber ich kann das nicht. Menschen werden in der Türkei ins Gefängnis gesteckt und gefoltert, nur weil sie Gülen-Anhänger sind. Das Schlimme ist, dass man als in Deutschland lebender Mensch mit türkischen Wurzeln dem Thema nicht entfliehen kann. In türkischen Medien wird rund um die Uhr Erdogan-Propaganda betrieben. Die türkischen Fernsehzuschauer, auch die in Deutschland lebenden Türken, sehen nur das. Und es wird immer stärker. Das Thema ist allgegenwärtig. Auch meine Eltern und Menschen aus meinem Bekanntenkreis wollen sich mit mir darüber austauschen, obwohl ich das nicht möchte. Ganz ausschließen aus meinem Leben kann ich das Thema aber nicht. Ich versuche deswegen, mit Menschen zusammenzusein, die wie ich darüber denken. Und die finde ich vor allem in der Hizmet-Bewegung.

Wie sind Sie denn zur Hizmet-Bewegung gekommen?
Nach meiner Schlosser-Ausbildung wollte ich arbeiten gehen. Als ich Hizmet-Symphatisanten kennengelernt habe, haben die mich davon überzeugt, dass ich mich weiterbilden kann. Dann habe ich mit der Abendschule angefangen und über den dritten Bildungsweg Abitur und Studium abgeschlossen. Ohne Hizmet wäre ich einfacher Arbeiter geblieben. So habe ich mich weiterentwickelt.

Ist das ein Problem der Integration, wenn Menschen, die hier leben und alle Rechte und Freiheiten genießen, sich derart mit einem Staatsmann in einem anderen Land identifizieren?
Wir müssen irgendetwas falsch gemacht haben, wenn Menschen nach über 40 Jahren in Deutschland immer noch Erdogan-Anhänger sind. Es gibt viel bessere Politiker in Deutschland und in Hamburg. Wieso kennen viele Deutschtürken die nicht? Wieso kennen sie nur Erdogan und die anderen Politiker in der Türkei? Ich kenne eine Studentin, die nach 22 Jahren in Deutschland ein Auslandssemester in England gemacht hat. Nach ein paar Monaten hat sie sich als Engländerin gefühlt. Als Deutsche hat sie sich nie gefühlt. Ich selbst habe zwei Jahre in Texas gelebt und mich nach sechs Monaten wie ein Amerikaner gefühlt. Da müssen wir gucken: Was machen wir falsch?

Was war in den USA anders?
Es wird nicht gesagt: Hier ist Deutschland, hier musst du dich anpassen. Hier ist Deutschland, hier musst du Regeln beachten. Hinzu kommt die Bürokratie, eine Behörde nach der anderen. Als ich von München nach Hamburg gezogen bin, habe ich für die Anmeldung in Hamburg sechs Stunden gewartet. Wenn man fremd ist, Flüchtling oder Gastarbeiter, wirkt das noch viel mehr. Wenn sie dann fragen: „Wie lange dauert das noch?“ Gibt es als Antwort nur: „Sie müssen warten!“ Wenn man das kennt, sieht man das etwas lockerer. Und weiß, dass die Beamten dass ohne böse Absicht machen. Aber für meine Eltern, für meine Vorgänger-Generation, war das zu viel. Es gab keine Willkommenskultur, keine Integrationskurse, keine Deutschkurse. Das haben wir falsch gemacht. Jetzt versuchen wir es bei den Flüchtlingen besser zu machen, und das ist gut so.

Sie sprechen von wir. Also ist es schon so, dass Sie sich mit Deutschland identifizieren?
Ich fühle mich wohl hier. Ich habe nur einen deutschen Pass, obwohl ich die doppelte Staatsbürgerschaft hätte beantragen können. Das wollte ich nicht, und das will ich immer noch nicht. Ich bin froh, nur einen deutschen Pass zu haben. Ich möchte hier leben und hier sterben. Und wenn ich tot bin, will ich hier begraben werden.

Es gibt gerade die Diskussion um die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft. Denken Sie, dass das ein Fehler wäre?
Ich glaube, wir müssen erstmal die Rahmenbedingungen verbessern. Die Fehler der Vergangenheit korrigieren. Erst dann können wir überlegen, die Regeln für die Staatsbürgerschaft zu verschärfen.

Wo sehen Sie denn Nachholbedarf?
Vor allem bei der Bildung, deshalb gehöre ich der Hizmet-Bewegung an. Wir glauben daran, dass mit Bildung auch im Hinblick auf Integration viel erreicht werden kann. Die Deutschkurse müssen für viel mehr Schichten angeboten werden – Deutschkurse für Schüler, für Unternehmer, für Studenten, für Hausfrauen, für Imame. Wir müssen unser Bildungsangebot vielfältiger gestalten.

Ist die Hizmet-Bewegung für sie daher eine Art von Selbsthilfe, um das Bildungsvakuum für Deutschtürken auszufüllen?
Ja, genau.

Wie erklären Sie sich das negative Bild von Hizmet, dass zum Teil in deutschen Medien gezeichnet wird?
Unser Verein hat in den letzten drei Jahren die Hälfte seiner Mitglieder verloren – wegen der Politik in der Türkei. Wenn man ausgestiegen ist, erzählt man negative Sachen. Dass wir Loyalität verlangen und sektenähnliche Strukturen haben. Aber aus einer Sekte kann man nicht einfach aussteigen. Unsere Mitglieder sind einfach ausgestiegen – ohne negative Konsequenzen. Hinzu kommt, dass wir uns zu wenig Gedanken um die Öffentlichkeitsarbeit gemacht haben. Wir haben gesagt: Wir tun etwas Gutes, aber sprechen nicht darüber. Aber in Deutschland ist es so, dass wenn man etwas Gutes tut auch davon erzählt. Da müssen wir unseren bisherigen Weg überdenken.

Wie kann man denn den Wesenskern von Hizmet beschreiben. Was kennzeichnet ihre Einrichtung als Hizmet-Einrichtung?
Wir versuchen unseren Glauben zu leben und dabei gesellschaftliche Aufgaben zu übernehmen, etwa durch Hausaufgabenbetreuung für Flüchtlinge und Migrantenkinder oder durch Hilfe bei Elterngesprächen in der Schule. Wir sehen uns als Weltbürger, die alle zusammen in einem Boot sitzen und eine gemeinsame Zukunft haben. Die wollen wir positiv durch interreligiösen und interkulturellen Dialog gestalten.

Befürchten Sie, dass sich nach dem Putschversuch und dem Aufruf von Erdogan an seine Anhänger, Loyalität zu zeigen, Deutschtürken noch mehr auf die Türkei fokussieren?
Wir müssen prüfen, ob wir unsere Hausaufgaben bei der Integration richtig gemacht haben. Ich kann nicht sagen: Wer hierbleiben möchte, hat sich so zu kleiden wie ich, sollte das Gleiche essen und trinken wie ich. Wir müssen andere Kulturen als Bereicherung sehen und als Chance, voneinander zu lernen. Wir müssen zusammenhalten und uns noch besser gegenseitig kennenlernen. Deshalb brauchen wir Dialog-Arbeit.

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