
„Finden Sie mich schlimm?“
Am 17. März hat das Stück „Seite Eins“ in den Hamburger Kammerspielen Premiere gefeiert. Das Einpersonenstück mit Ingolf Lück über einen skrupellosen Journalisten beleuchtet die Methoden der Boulevardpresse und hält auch dem Publikum den Spiegel vor: Wer trägt die Verantwortung für die Sensationslust der Medien?
Von Nele DeutschmannVor leider nicht ganz ausverkauftem Saal betritt Ingolf Lück alias Marco, ein leicht zerzauster windiger Journalist mittleren Alters, die leere Bühne. In dem Stück von Johannes Kram, das in Gütersloh uraufgeführt wurde, bietet kein Bühnenbild dem so an Schnelligkeit und Abwechslung gewöhnten Auge des Zuschauers Ablenkung. Frage in den Zuschauerraum: „Finden Sie mich schlimm? Finden Sie mich interessant? Finden Sie mich sympathisch? Nein? Das ist guuut!“
Dem Zuschauer wird keine Pause gewährt. Keine Zeit zum Nachdenken. Keine Zeit für Widerspruch. Auch sie werden zum Opfer der Überredungskunst und Manipulation des Pressemannes. Schnell wird klar: dieser Mensch würde alles für die nächste Schlagzeile tun – alles, um auf die Seite Eins zu gelangen.
Bewaffnet mit seinem Smartphone hat Marco für jeden seiner Gesprächspartner die richtige Tonart, die passenden Schmeicheleien parat. Er gleicht dem oft bemühten Wolf im Schafspelz, der sich solange gutmütig zeigt, bis eins seiner Schäfchen aus der Reihe tanzt. Marcos neustes Projekt ist die junge Lea, die er auf einer Preisverleihung kennengelernt hat. Der Sängerin sind die Methoden der Boulevardpresse suspekt. „Idealismus oder so.“ Sie wolle nur ihre neue CD promoten. Ihr Privatleben solle geschützt werden. Sie hat keine Chance. Der hinterlistige Wortverdreher hat eine neue Titelstory gewittert. Doch ein Recherchefehler stellt auch Marco nach Erscheinen des Blattes, das nicht nur zufällig an das Format der Bild erinnert, vor ein Problem. Wird er es lösen? Natürlich.

Der Zynismus der Boulevardpresse wird in Seite Eins drastisch inszeniert. Und doch mutet das Stück bedrückend realistisch an. Übertrieben und übersteigert? Leider nicht. Schlussendlich stellt es auch die Frage nach der Verantwortung. Liegt sie allein bei den Schreiberlingen? Liegt sie bei denen, die die Beiträge produzieren? Oder bei denen, die sie konsumieren?
Nach seinem Fehlschlag liegt Marco zitternd und fassungslos am Boden. Gequält brüllt er ins Publikum: „Gucken Sie weg! Hauen Sie ab! Das können Sie nicht, oder? Sie sind es – die Schaulustigen!“
Noch bis 12. Mai könnt ihr euch das Theaterstück in den Kammerspielen anschauen. Programminfos.