Die Schule seines Lebens
Olaf Jessen brachte das Boxen an Hamburgs Schulen. Faustkampf zur Gewaltprävention – wie passt das zusammen? Ein Leben für den Boxsport.
Von Vanessa Leitschuh„Locker stehen, Schultern breit, Fäuste nach oben. Jetzt links und rechts schlagen.“ Die achtjährige Leni steht zum ersten Mal vor Boxcoach Olaf Jessen. „Ich habe die größten Hände der Welt!“, ruft sie und reißt ihre roten Boxhandschuhe in die Höhe. Ihre Arme sehen aus wie zu dünn geratene Zweige, die unter der Last zu großer Früchte brechen könnten. Aber Leni stemmt die Fäuste nach oben und boxt gegen die Handpratzen des Trainers.
„Kinder brauchen Bewegung. Durch Bewegung können sie sich besser konzentrieren und Aggressionen abbauen. Der Boxsport ist dafür – wie wir es machen – perfekt“, erklärt Olaf Jessen. Als Jessen jung war, wollte er Fußball spielen, doch er war zu klein für den Sport. Sein Vater war Boxer, und so begann auch er mit dem Boxen.
Das war zu einer Zeit, als der Sport in Verruf geraten war. Wenn damals im Hamburg der siebziger Jahre die Nachricht einer Kiezschlägerei die Runde machte, seien mit großer Sicherheit Kampfsportler beteiligt gewesen, erinnert sich Olaf Jessen. „Wenn die falschen Leute in der Sportart rumeiern, dann hast du einen schlechten Leumund.“ Bis heute habe der Sport ihm viel gegeben, erzählt der Coach. Doch Jessen gab auch einiges zurück.
Ein Sieg außerhalb des Rings
„Links, rechts. Deckung oben halten“, ruft der Boxtrainer Leni zu. „Eins, zwei, eins, zwei. Die Fäuste eindrehen.“ Lenis Schlagkombinationen sehen mehr nach Tanzchoreographie als nach Boxschlägen aus. „Jetzt drei Hände: links, rechts, links.“ Bam, bam, bam. Leni setzt zum Schlag an. Pitsch, patsch, patsch. „Was hat der Trainer gesagt? Links, rechts, links! Zuhören, verstehen, dann erst machen“, ermahnt Jessen. Mit den Übungen werden Lenis Schläge kräftiger, ihre Haltung lockerer, die Kombinationen präziser. Sie lernt schnell. „Jetzt 20 Schläge“, ruft Leni. Müde wird sie nicht.
Der studierte Fitnessfachwirt ist seit fast drei Jahrzehnten Chef seines eigenen Sportstudios. Vor 18 Jahren zog er mit dem Hankook Sportcenter nach Stellingen. Als aktiver Boxer wurde Olaf Jessen deutscher Vizemeister, zur Europameisterschaft nominiert und dreimal zum Hamburger Sportler des Jahres gekürt. Doch der größte Sieg, den er für den Boxsport errungen habe, der habe außerhalb des Rings stattgefunden.
Es war 2007, als die Politiker in der Hamburger Bürgerschaft über sein Konzept abstimmten, das Boxen in Hamburgs Schulen zu bringen. Zuvor war der Sport in deutschen Schulen gesetzlich verboten. Jessen entwickelte einen Kriterienkatalog, der den Boxsport seither als pädagogische Maßnahme erlaubt. Diese Errungenschaft ebnete den Weg für den Boxschool e.V. – einen Verein, der Kindern und Jugendlichen dabei hilft, Probleme nicht mit Fäusten, sondern auf sportliche Weise zu klären. Und das durch Boxunterricht.
Faustkampf statt Goethes Faust
Als Partner der Schulbehörde unterstützt der Verein Hamburger Schulen. „Manchmal kommen die Lehrer nicht mehr an das Kind heran. Dann kommen wir von außen und können eine andere Beziehungsebene erreichen“, erklärt der Boxcoach und erste Vorsitzende der Boxschool.
„Stark sein ist immer relativ. Es geht um die Werte und das Miteinander.”
Olaf Jessen
Wie erfolgreich die Arbeit mit den Kindern ist, zeigt die große Nachfrage: Die „selbststärkenden Kurse“ finden heute an 32 Schulen in ganz Hamburg statt. Die Kurse unterstützen die Schüler dabei, ihre Haltung zu verändern und einen respektvollen Umgang miteinander zu lernen. „Wir wollen Werte vermitteln. Disziplin, Regeln, Respekt“, so Jessen. „Wir werden nicht jedes Kind erreichen und retten können. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Kind auf uns einlässt, ist sehr hoch.“
Botschafter für das Gute
In den Kursen der Boxschool steht das Boxen jedoch nicht an erster Stelle. Es gibt Stunden, in denen es auch mal ganz ausfällt. „Wenn die Schüler etwas beschäftigt, kommt es vor, dass wir in den Einheiten ausschließlich mit ihnen darüber sprechen“, erklärt der Trainer. Die Kinder und Jugendlichen vertrauen den Trainern oft mehr an als ihren Lehrern.
Das pädagogische Angebot arbeitet mit den Mitteln und Regeln des Boxsports, aber auch Gymnastik und Krafttraining stehen auf dem Programm. Rund 800 Schüler nehmen an den Kursen der Boxschool teil. Meist sind das Jugendliche, die selbst auffällig geworden sind. Aber auch solche, die im Abseits stehen, gemobbt oder Opfer von Gewalt wurden.
„Es geht darum, den Kindern den Rücken zu stärken, die die Rückenstärkung brauchen“, findet Jessen. Dabei müssen auch die Trainer das „Herz am rechten Fleck“ haben, um die Werte der Boxschool weitergeben zu können. „Jeder, der sich mit der Boxschool auseinandersetzt, ist indirekt ein Botschafter für das Gute.“