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Foto: Privatarchiv Peggy Parnass
Aus dem Archiv

Peggy Parnass: Die Liebende(n)

Schauspielerin, Publizistin, Gerichtsreporterin, Aktivistin, Jüdin: Peggy Parnass’ Leben gleicht einem Rausch. Ihre Kindheit verbringt sie in einer Wohnung in der Methfesselstraße – bis ihre Eltern von den Nazis deportiert und ermordet werden. Über eine Frau, der viel Leben genommen wurde und die trotzdem überlebt hat.

Von Alana Tongers

Peggy Parnass’ rote Locken leuchten hinter der Plexiglasscheibe, die sie von der Welt außerhalb der Senioreneinrichtung in St. Georg trennt. Anders darf sie keinen Besuch empfangen – Corona macht auch vor einer Frau wie ihr keinen Halt. Sie ist ein freiheitsliebender Mensch, der sich mit Regeln wie dieser schwertut.

Dafür wird sie schon mal liebevoll von einem der Pfleger gerügt. „Du warst doch gestern schon drei Stunden zum Essen in der Stadt”, sagt einer. Peggy duzt jeden und will von jedem geduzt werden – aus Prinzip. Ihr genaues Alter verrät sie nicht. Nicht, weil sie ein Mysterium aus ihrer Person machen will, sondern weil es keine Rolle spielen soll. Ihre Worte und Ansichten sollen Bedeutung haben, nicht die eingeklammerte Zahl hinter ihrem Namen.

Kindheit in der Methfesselstraße

Auch ohne ihr exaktes Geburtsjahr zu kennen, ist klar: Das Eimsbüttel, in dem Parnass vor vielen Jahrzehnten aufgewachsen ist, war ein anderes, als wir es heute kennen. Vorwiegend Arbeiter haben hier gewohnt. Ihr Vater Simon „Pudl” Parnass war gelernter Auktionär – vor allem aber leidenschaftlicher Zocker. Ihre Mutter Hertha erinnert sie als feine, sanfte Frau. Wahnsinnig verliebt seien die beiden gewesen. „Ob Pudl nach ein paar Tagen nach Hause kam oder nach einer halben Stunde: Mutter ist immer auf ihn drauf gesprungen und hat ihn mit Armen und Beinen umzingelt”, erzählt Peggy.

Foto: Alana Tongers

Zusammen mit dem jüngeren Bruder „Bübchen” wohnten sie in einer kleinen Erdgeschosswohnung in der Methfesselstraße. Sie wuchsen in ärmlichen Verhältnissen auf. „Ich habe mich aber nie arm gefühlt”, sagt Peggy heute. Zu beschäftigt seien sie gewesen, mit der Liebe zueinander. Es ist ein kurzes Glück. Dann wenden sich Deutschland – und damit auch der Stadtteil ihrer Kindheit – gegen sie.

Eine Nachbarschaft verstummt

Sie seien die einzige jüdische Familie in der Straße gewesen, erinnert sich Peggy. Es habe nicht viele ranghohe Nazis in der engeren Nachbarschaft gegeben. Aber eben auch kaum Anwohner, die sich ihnen entgegenstellten und die Familie Parnass unterstützten. Eine ganze Nachbarschaft verstummte. Schaute weg, als junge Männer ihren sieben Jahre jüngeren Bruder Bübchen auf die Methfesselstraße warfen und „Judenschwein” riefen. Einmal legte eine ältere Frau von nebenan einen frisch gebackenen Laib Brot vor die Tür. Darin ein Zettel, den Peggys Mutter ihr vorlas: „Ich schäme mich, eine Deutsche zu sein.”

Die Nachbarin blieb eine Ausnahme. Es überwiegen die schmerzhaften Erinnerungen an eine Kindheit, die keine richtige war. Wie die an den Milchladen um die Ecke und die Milchfrau, die Peggys Mutter vor ihren Augen mit Schlägen aus dem Geschäft trieb. Peggy Parnass’ Stimme stockt, wenn sie davon erzählt.

„Jedem war klar, dass wir ermordet werden würden”

Die Ausgrenzung, die Gewalt, der Hass – sie waren kein Geheimnis, sondern allgegenwärtig. „Jedem jüdischen Kind war klar, dass wir ermordet werden würden”, sagt Peggy Parnass. Auch ihre Eltern wussten um die Gefahr. Hertha Parnass gelang es, Peggy und Bübchen 1939 mit einem der letzten Kindertransporte nach Schweden zu schicken. Da hatte die Gestapo Vater Pudl schon abgeholt. Ihren Kindern versprach sie nachzukommen. „Irgendwann, in einem halben Jahr vielleicht.” Sie wusste, dass sie die beiden nie wieder sehen würde. Trotzdem lachte Hertha Parnass, um ihren Kindern die Angst vor dem was kommt zu nehmen. Da war Peggy gerade elf. Vor wenigen Jahren erfährt sie, dass ihre Mutter nach Abfahrt des Zuges ohnmächtig auf dem Bahnsteig zusammenbrach – erst drei Tage später wachte sie wieder auf.

Es folgt eine Odyssee für die Geschwister. Sie werden voneinander getrennt – Peggy verbringt die Kriegsjahre in zwölf verschiedenen Pflegefamilien. Ein halbes Jahr nach der Abfahrt aus Hamburg wartet sie vor einer der vielen Bleiben auf ihre Mutter. Sitzt einen ganzen Tag vor den Stufen des Hauses, wissend, dass sie nicht kommen wird. Lange ist unklar, wo die Eltern gestorben sind. Heute weiß Peggy, dass sie erst ins Warschauer Ghetto, dann ins Konzentrationslager Treblinka deportiert und dort 1942 ermordet wurden. „Ich hoffe immer, dass sie sich umarmt haben, als sie umgebracht wurden”, sagt Peggy leise. „Sicherlich absurd. Aber ich klammere mich an die Hoffnung.” Die Nazis haben ihre große Familie beinahe vollständig ausgelöscht.

„Zurück? Unmöglich, das war kein Zurück”

Nach Kriegsende nimmt Peggy die schwedische Staatsbürgerschaft an. Sie geht nach London, fühlt sich „nirgends und überall” zu Hause. In Hamburg bleibt sie schließlich hängen: Eigentlich ist sie auf der Durchfahrt, will nur ihre Cousine besuchen. Bewusst sei sie nie zurückgekehrt. „Unmöglich”, sagt sie bestimmt. Und dann leise hinterher: „Das war kein Zurück.”

Foto: Privatarchiv Peggy Parnass

Doch die Dinge ergeben sich. An der Universität Hamburg findet sie schnell Anschluss und lernt die Autoren Peter Rühmkorf und Klaus Rainer Röhl kennen, der später Ulrike Meinhof heiratet. Sie ziehen zusammen in eine kleine Wohnung in Lokstedt, gründen die „Kommune 00” und spielen gemeinsam Theater. „Eine Zeit voller Hoffnung und Aufbruch”, beschreibt Peggy lächelnd. Sie wird Schauspielerin, wirkt in etlichen Filmen mit und beginnt für die linke Monatszeitschrift „konkret” zu schreiben.

Peggy Parnass‘ Sprache balanciert auf einem schmalen Grat. Mal umschreibt sie die Dinge mit poetischer Schönheit, ohne sie zu verklären. Dann formuliert sie hart und auf den Punkt. Es ist die feine Beobachtungsgabe, die Peggy in den 70er Jahren als Gerichtsreporterin bekannt gemacht hat. Für „konkret” will sie die Prozesse gegen NS-Täter begleiten. Hunderte Male ist sie im Gerichtssaal. Doch nur in wenigen Fällen geht es um Nationalsozialisten – denn viele von ihnen schleichen sich zurück in die Gesellschaft und umgehen die Anklagebank.

„Sie sollen erfahren, wo sie wohnen”

Die Wut über die Ermordung ihrer Eltern treibt sie an. Die Wut bringt sie zurück nach Eimsbüttel, zurück in die Methfesselstraße, zurück in den Milchladen, aus dem ihre Mutter einst vertrieben wurde. Dort steht sie aufgeregt an der Wand und wartet. Will ein kleines Stück Rache, ein wenig Gerechtigkeit, sucht die Konfrontation. Dann erkennt die Milchfrau in Peggy das kleine Mädchen von früher und geht auf sie zu. „Wie oft muss ich an deine Mutter denken”, sagt die Verkäuferin mitleidig. „Diese liebe, liebe Frau!” Peggy Parnass, selten um eine schlagfertige Antwort verlegen, verlässt den Laden. „Ich konnte gar nichts sagen. Mir war schlecht.”

Die Erinnerungen seien die Hölle. Nur wenig Greifbares ist Peggy Parnass geblieben: Die Nachbarn haben das komplette Eigentum der Familie Parnass an sich gerissen und untereinander aufgeteilt. Jahre nach Kriegsende meldet sich einer von ihnen bei Peggy am Telefon. Er habe die alte Küchenleiter ihrer Mutter gefunden. Ob sie sie zurück wolle. Zusammen mit einigen wenigen Fotos ist sie das einzige Erbstück, das Peggy heute besitzt.

Peggy Parnass ist wütend geblieben. Sie kann an keiner Ungerechtigkeit vorbeisehen. Nicht so, wie es viele der damaligen Nachbarn in der Methfesselstraße getan haben. Stattdessen zeigt sie die klaffenden Wunden einer unfairen Welt auf – eher mit erhobenem Mittel- statt Zeigefinger. Ein Leben lang hat sie sich für die Rechte der Schwachen und Ausgestoßenen eingesetzt, war und ist in der Menschenrechts-, Friedens-, Frauen- und Schwulenbewegung aktiv.

Und sie kämpft für die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus. Mal laut auf der Straße. Mal leise, bei einem Vortrag vor ihrem alten Wohnhaus in der Methfesselstraße. Ihr sei es wichtig, dass die Eimsbütteler erfahren, wo sie eigentlich wohnen: „Warum sie da wohnen. Wer da vorher gewohnt hat. Den Zusammenhang verstehen, das Was, das Wieso.”

Kopfüber lieben

Seit 2002 erinnern zwei Stolpersteine vor der Methfesselstraße 13 an Peggys Eltern. Auf ihren Wunsch wurde noch ein dritter hinzugefügt. „Die Liebenden” steht darauf – wie ein Bindeglied liegt er unter den Namen des Paares. Die Liebe der Eltern zueinander, für Peggy Parnass ist sie die schönste Erinnerung ihres Lebens. Immer hat sie nach ihr gesucht, sich in Verhältnisse und Beziehungen gestürzt. „Kopfüber”, wie sie schmunzelnd sagt. Gefunden hat sie sie vor allem in ihren Freunden. Sie habe sich immer an Menschen geklammert und es so geschafft zu überleben, obwohl ihr so viel Leben genommen wurde. Hoffnung geschöpft, aus den Lebensansichten derer, mit denen sie sich umgibt. Nicht für die Zukunft, sondern immer nur für die Gegenwart.

Foto: Alana Tongers

Im September letzten Jahres wurde Peggy Parnass gemeinsam mit der Auschwitz-Überlebenden und ihrer Freundin Esther Bejarano mit der Hamburg Ehrendenkmünze in Gold ausgezeichnet. „Sie haben mit ihren oft streitbaren Wortmeldungen seit Jahrzehnten wichtige Impulse für Demokratie, Erinnerungskultur und Gleichberechtigung gegeben”, begründete Bürgermeister Tschentscher die Wahl.

Wie bei so vielen Dingen ist Peggys Reaktion auf die Ehrung unerwartet. Die Medaille sei ihr erstmal egal gewesen, sagt sie. Doch ein Gedanke hat ihre Meinung zu der Auszeichnung dann doch geändert: Der an ihre „arme” Mutter, die aus der Stadt gejagt wurde. Und nun sie, die Tochter, geehrt mit einer der höchsten Auszeichnungen der Stadt. „Ich kann das ja einfach als Geschenk sehen – für sie”, lacht Peggy. Zum Abschied formt sie ihre Arme zur erdachten Umarmung. Man kann sie durch das Plexiglas spüren.

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Überstunden am Leben

Eine Biografie, die für viele Leben reicht: In ihrer Filmcollage „Überstunden am Leben” von 2017 zeichnen Jürgen Kinter und Gerhard Brockmann anhand verschiedenster Filmausschnitte ein Bild der leidenschaftlichen Peggy Parnass. Das Porträt zeigt Parnass und ihren Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit über die Jahrzehnte.

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