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Kronenkranich im Tierpark Hagenbeck. Foto: Moritz Gerlach
Ein Kronenkranich im Tierpark Hagenbeck. Foto: Moritz Gerlach
Magazin #23

»Uns fehlt ein Stück Homo parasiticus«

Zwischen all dem Asphalt und Beton vergessen wir oft, dass Städte die artenreichsten Flecken Deutschlands sind. Doch wir verlieren sie, die Vielfalt unserer Erde.

Von Vanessa Leitschuh

In seinem neuen Buch „Wer wird überleben?” schreibt der Eimsbütteler Biologe Lothar Frenz über den Verlust der Arten und stellt die Frage: Wie soll unsere Erde in Zukunft aussehen? Warum die Kieler Straße gefährlicher als mancher Dschungel ist und der Mensch ein besserer Parasit werden muss.

Eimsbütteler Nachrichten: Die Naturschutzorganisation WWF sprach in ihrem letzten Jahresbericht vom größten Artensterben seit dem Ende der Dinosaurier. Wofür brauchen wir eigentlich Biodiversität?

Lothar Frenz: Biodiversität ist das ganze Geflecht an Arten, die die Stabilität unserer Lebensräume ausmachen. Die Meere, die Wälder, aber auch Graslandschaften und Moore sind zum Beispiel große Kohlendioxid-Binder. Das funktioniert aber nur, wenn es dort intakte Artensysteme gibt. Sonst brechen sie zusammen – mit schlimmen Folgen, wenn das Gefüge durcheinander gerät. Wir brauchen das stabile Netz aber, um selbst eine stabile Lebensgrundlage zu haben. Teilweise merken wir das schon. Zum Beispiel wenn Krankheitserreger auf uns überspringen, weil wir in fremde Lebensräume eindringen oder Tierarten mit ihren Viren auf Wildtiermärkten zueinander bringen.

Ökologie ist also eine Wissen­schaft der Beziehungen. Sind die Klima- und Artenkrise Folgen des fehlenden Verständnisses für die Zusammenhänge unserer Welt?

Diese Beziehungen sind komplex und auf den ersten Blick nicht einsehbar. Durch unser Verhalten ändern wir diese aber sehr. Vor 100 Jahren ist niemand geflogen, heute ist das für uns – zumindest bis vor einem Jahr – ganz selbstverständlich. Wie kann ein so großer Eingriff in ein natürliches System keinen Einfluss haben? Wir verändern das ganze Beziehungsgeflecht so, dass es gewaltige Folgen hat. Die spüren wir aber nicht gleich. Deshalb müssen wir ein Gefühl für diese Eingriffe und deren Auswirkungen entwickeln. Ich sage bewusst Gefühl, weil wir es eigentlich alle wissen: Wir lesen darüber, haben es im Kopf – und vergessen es wieder.

Du schreibst in deinem Buch, dass mit Corona die Auswirkungen der Artenkrise die Folgen der Klimakrise erstmals überholt haben. Warum wird der Verlust der biologischen Vielfalt bisher weniger beachtet?

Der Verlust der biologischen Vielfalt ist viel schwieriger zu erklären. Man bekommt es nicht so einfach auf den Punkt. Sagt man: Das Klima wird wärmer, der Meeresspiegel steigt, die Extremwetter häufen sich – kann man sich das viel besser vorstellen. Auch weil wir es bereits spüren. Aber selbst beim Klima haben die Menschen lange gebraucht, bis es halbwegs ins Bewusstsein vorgedrungen war.

Hier in unseren Städten bekommen wir nicht richtig mit, was sich da draußen ändert. In Naturdokumentationen siehst du, wie viele wunderbare Tiere es gibt. Zwar wird gesagt, wie bedroht sie alle sind, aber trotzdem siehst du sie. Wenn du aber weißt, dass es mittlerweile 24 Mal mehr Haustiere als Wildtiere gibt – gemessen am Gewicht –, hat das plötzlich eine andere Relation.

person

Lothar Frenz

… ist als Biologe und Journalist für GEO und Naturdokumentationen auf den Spuren der Artenvielfalt unterwegs. Dabei veröffentlichte der 57-Jährige verschiedene Bücher über das Entdecken und Retten von Arten. Außerdem ist Frenz Botschafter der Loki Schmidt Stiftung. Er lebt seit rund 20 Jahren in Eimsbüttel. Auf die Frage, wo er sich in Hamburg am liebsten in der Natur erholt, antwortet er: „In Planten un Blomen – es gibt keinen anderen Ort in Hamburg, wo man die Jahreszeiten besser nachvollziehen kann.”

Noch im Februar 2020 besuchte Frenz die Singvogelarche auf der indonesischen Insel Java. Auf dem Arm hält er einen seltenen Tenggara-Beo. Dessen größte Bedrohung: Vogeljäger. Denn seine Art ist vor allem deshalb gefährdet, weil sie in großer Zahl als Käfigvögel gehalten werden. Foto: Jochen Menner

Haben Sie ein Beispiel dafür, wie sich ein Ökosystem verändert, wenn eine Art ausgestorben ist?

Mir fällt eines aus Yellowstone ein, dem ersten Nationalpark der Welt. Er wurde gegründet, um die großartige Landschaft zu erhalten. Damit sich die Menschen an vielen Hirschen erfreuen können, hat man die Wölfe in den 1920ern dort ausgerottet. Die Hirsche haben aber alles platt gefressen, als sie sich stark vermehrten. Schließlich jagte man sie.

Das änderte aber wenig, weil Wölfe anders jagen als Menschen. Jäger kommen ab und zu und schießen ein paar Hirsche. Wölfe können überall auftauchen. Das verändert das Verhalten der Hirsche, sie meiden manche Stellen. Dort wachsen wieder Bäume, die sie sonst abfressen würden. Erst als wieder Wölfe ausgesetzt wurden, wurde es besser. Das war noch kein Umkippen. Aber daran kann man genau nachvollziehen, was passiert, wenn eine Tierart fehlt.

Mittlerweile ist der Wolf auch zurück in Deutschland. Wie gefährlich ist er für den Menschen?

Erstmal finde ich es großartig, dass er wieder da ist. Gleichzeitig muss uns natürlich bewusst sein: Es sind Raubtiere, dementsprechend müssen wir mit ihnen umgehen.

Das Gefährlichste, was mir je passiert ist – bei all den Abenteuern, die ich auf der Welt unternommen habe –, war an der Kieler Straße. Ich bin mit dem Fahrrad bei Grün über die Ampel gefahren, als mich ein Lastwagen umfuhr. Ich kam mit einer geprellten Hüfte und einer gebrochenen Rippe davon.

Was ich mit dem Vergleich sagen will: Es sind Raubtiere, ja. Aber die Gefahr wird oft viel größer dargestellt, als sie eigentlich ist. Du musst dich mal in Eimsbüttel an eine Ampel stellen und schauen, wie viele Autofahrer bei Rot fahren. Dann überlege mal: Wie viele Menschen wurden in Eimsbüttel in den letzten Jahren von Autos totgefahren, weil sie bei Grün über die Straße gingen oder losradelten? Und wie viele Menschen wurden seit der Rückkehr der Wölfe ihr Opfer? Richtig: kein einziger. Natürlich fahren auch Radfahrer bei Rot, aber das Auto hat viel mehr Wucht. Das habe ich gemerkt – und hatte Glück. Viel mehr als ich bei Vulkanausbrüchen in Neuguinea oder Expeditionen im Bürgerkriegsland in der Zentralafrikanischen Republik brauchte.

Im Buch schreibst du, wir brauchen ein neues Selbstbild für unsere Spezies. Wie sähe das aus?

Was uns fehlt, ist ein Stück Homo parasiticus. Das klingt erstmal schlimm – soll es auch. Sonst nennen wir uns Homo deus oder Homo sapiens, damit erhöhen wir uns ganz schön. Im Homo parasiticus steckt aber: Ein guter Parasit, der von seinem Wirt lebt, so wie wir von der Erde, der achtet genau darauf, dass er dieses System nicht zerstört. Er nimmt nur so viel, dass es erhalten bleibt. Und das ist etwas, das wir überreizt haben. Deshalb sage ich, es täte uns gut, wenn wir uns etwas von diesen Würmern abschauen.

Parasitologen nennen Para­siten, die schon lange in uns leben, alte Freunde. Weil Wirt und Parasit sich in ein „Gleichgewicht des Schreckens” hochgeschaukelt haben. Der Wirt braucht den Parasiten in seinem System. Das ist keine Symbiose, aber wenn diese Parasiten fehlen, fehlt auch dem Wirt etwas. Wir müssen also alte Freunde mit der Erde werden. Und alte Freundschaften bestehen aus Geben und Nehmen. Bislang nehmen wir nur.

Darin steckt aber auch ein anderer Ansatz für unser Verhältnis zur Natur. Statt nur zu sagen, wir müssen jetzt auf vieles verzichten, geht es auch darum, etwas zu stabilisieren. Nämlich unsere Lebensräume, damit die nicht umkippen. Und da ist das Bild des Gebens und Nehmens hilfreich, um neue Gedanken zu entwickeln.

In Deutschland bleibt Wildtieren durch die Landwirtschaft wenig Lebensraum. Wie wichtig sind Städte für die Artenvielfalt?

Zum einen sind Städte mittlerweile sehr vielfältige Lebensräume für eine ganze Reihe von Tieren und Pflanzen. Es gibt viele Öko-Nischen, wie Parks und Grünanlagen oder Hochhäuser – kleine Gebirge für Felsenbrüter. Die sind deutlich vielseitiger als die industrialisierte Landschaft drumherum, deshalb findet man hier eine größere Artenvielfalt. Auch weil wir nicht jagen. So finden sogar immer mehr große Tiere in die Stadt. Der artenreichste Fleck Deutschlands ist heute Berlin.

Auf der anderen Seite sind die langfristigen Entwicklungen: Städte sind auch die Orte, wo es am heißesten wird. Der Beton speichert mehr Wärme, der Austausch mit der Luft ist geringer. Städte sind auch prädestiniert für den Ausbruch neuer Krankheitserreger. Noch nicht so sehr in Deutschland, aber schauen wir mal nach Indien oder Brasilien: Dort leben die Menschen in den Städten viel dichter. Infektionskrankheiten – die laut Prognosen in den nächsten Jahren stärker kommen werden – können sich dort besser ausbreiten.Das ist auch ein Gedanke in meinem Buch: Wir sind nicht von der Natur abgeschnitten, nur weil wir in Städten leben. Unser ganzer Körper ist Natur.

Der Biologe Edward O. Wil­s­on fordert: Stellt die Hälfte der Erde unter Schutz. Wäre das eine Lösung?

Hier wir Menschen, dort der Rest – ich denke, das wird nicht funktionieren. Wir müssen eine Möglichkeit finden, ein Nebeneinander mit der Natur zu ermöglichen.

Dazu gibt es viele Projekte: In meinem Buch beschreibe ich das Chinko-Projekt in der Zentralafrikanischen Republik. Dort geht es darum, eine Wildnis zu erhalten und sie so zu entwickeln, dass die Menschen vor Ort etwas davon haben. Und zwar mehr, als würden sie nur ihre Rinder weiden lassen oder alle wilden Tiere abschießen und essen.

So verstehe ich die Forderung von Wilson. Strikte Grenzen zu ziehen, ist nicht mehr machbar. Und man kann die Menschen nicht vertreiben, sondern muss mit ihnen vor Ort sehen, wie die Ökosysteme erhalten bleiben, von denen wir alle leben.

Bis 2050 könnten 40 Prozent aller Arten ausgerottet sein. Was kann jeder Einzelne tun, um das Massenaussterben aufzuhalten?

Das eine ist, was man privat im Garten oder auf seinem Balkon macht, um Wildpflanzen oder Insekten bei uns zu halten. Ich sehe es gerade bei mir am Heußweg: Ein Bekannter pflegt dort zwei Baumscheiben. Und zwar nicht so, dass er möglichst bunte Blumen pflanzt, sondern um Wildpflanzen anzusiedeln und Verstecke für Insekten mit Stroh oder Holz zu schaffen.

Eine andere Möglichkeit ist, Naturschutzorgani­sationen zu unterstützen. Da gibt es Stadtteilgruppen oder die Loki Schmidt Stiftung, die mit ihren beiden Stiftungshäusern viel macht.

Man kann entsprechend leben und auch sonst die richtigen Entscheidungen treffen. Das heißt: wählen, sich engagieren, diejenigen unterstützen, die sich für diese Art von Stabilität einsetzen. Das ist das Schwierige daran: Es ist wichtig, dass der Einzelne etwas tut, aber genauso wichtig ist es, dass alle zusammen handeln. Was für mich dabei aber ein wichtiger Gedanke ist: Es geht nicht um Schuldzuweisungen von früher, sondern um Entscheidungen für das, was kommt.

Was macht dir am meisten zu schaffen, wenn du über das Artensterben schreibst?

Mir macht es im Prinzip Spaß, mich mit solchen Fragen zu beschäftigen, und zwar seit Kindesbeinen. Aber es macht mir auch immer wieder zu schaffen. Ich nehme mal das Beispiel des Sumatra-Nashorns, mein Lieblingsnashorn. Ich verfolge seit ich ein kleiner Junge war, wie es mit den Sumatra-Nashörnern bergab geht. Trotz aller Bemühungen ist man noch nicht weiter gekommen. Das ist schon ziemlich traurig, das merke ich auch, wenn ich darüber schreibe.

Aber sobald ich verstehe, warum es so gekommen ist und was man ändern könnte, liegt darin eine Möglichkeit, etwas zu unternehmen. Das ist mir im letzten Jahr so bewusst geworden wie nie. Denn: Hoffnung entsteht, wenn man etwas tut.

Vielen Dank für das Gespräch.

Im Jahr 1991 besuchte Frenz das Sumatra-Nashorn Rapunzel im New Yorker Bronx Zoo. Zwei Jahre zuvor war die vereinsamte Nashorndame in einem Wald in Sumatra gefangen worden und wurde Teil eines Zuchtprogramms. Der Zuchterfolg setzte nie ein: Es wurden seither erst fünf Sumatra-Nashörner in menschlicher Obhut geboren (rechts). Eine Zeichnung des Sumatra-Nashorns von dem Eimsbütteler Künstler Tobias Emskötter aus dem Heußweg 80 (links). Foto: Lothar Frenz; Zeichnung: Tobias Emskötter

Zum Buch: Wer wird überleben?

Mit zum Teil bizarren Methoden versucht unsere Art, das Überleben der anderen zu sichern: Artenschützer in Pandakostümen bespritzen sich mit Panda-Urin, damit sich die Bären nicht an den Menschen gewöhnen. Es gibt Dating-Agenturen für seltene Tiere und Angstseminare, um zahmen Vögeln den Fluchtimpuls einzuimpfen.

In seinem neuen Buch „Wer wird überleben?” zeigt Lothar Frenz die Skurrilitäten und Zusammenhänge unserer Welt auf. Die Frage des Überlebens von Arten beschäftigt den Biologen und Journalisten von Kindesbeinen an. Nach Bü­chern über das Entdecken und Aussterben von Arten sollte ein Buch über das Retten folgen. Doch „Wer wird überleben?” geht darüber hinaus: Es geht um Beziehungen, Abenteuer – und nichts weniger als unsere Zukunft.

„Wer wird überleben? Die Zukunft von Natur und Mensch” 20. April 2021 • Rowohlt Berlin Verlag • 448 Seiten • gebunden oder als e-Book

Cover: Rowohlt Berlin Verlag
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