Jüdisches Leben im Grindel
Von den ersten Juden aus der Hamburger Neustadt bis zum Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge – kein Stadtviertel der Hansestadt war und ist so jüdisch geprägt wie der Grindel. Ein Einblick in mehrere Jahrhunderte Geschichte.
Von Christiane TauerDas Grindelviertel und die Jüdische Gemeinde sind untrennbar miteinander verbunden. Hier, zwischen Grindelallee, Hallerstraße und Rothenbaumchaussee, schlug bereits vor mehr als hundert Jahren das Herz der jüdischen Kultur in Hamburg. Hier stand mit der Bornplatzsynagoge eine der größten Synagogen Deutschlands in direkter Nachbarschaft zum zentralen jüdischen Bildungshaus, der Talmud-Tora-Schule.
Jüdisches Leben: Von den Anfängen zu Klein-Jerusalem
Die Anfänge des jüdischen Lebens an der Elbe liegen aber nicht im Grindel, sondern in der heutigen Neustadt, rund um die Straßen Kohlhöfen und Poolstraße. Dort ließen sich ab dem Ende des 16. Jahrhunderts die ersten Juden in Hamburg nieder. Sie kamen aus Portugal.
Ab den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts wanderte ein Großteil der jüdischen Bevölkerung aus den dicht bebauten Wohnquartieren der Neustadt in die luftigeren Stadtteile Rotherbaum und Harvestehude. Lebten um 1870 noch drei Viertel aller Hamburger Jüdinnen und Juden in der Alt- und Neustadt, stieg der Anteil in Rotherbaum und Harvestehude bis 1900 auf 40 Prozent. Der Umzug in die besseren Wohnviertel westlich der Alster symbolisierte den wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg der Juden.
Auch die unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Glaubensgemeinschaft wurden deutlich. Während die sogenannten liberalen und assimilierten Juden zum Teil der Oberschicht angehörten und sich bevorzugt in Harvestehude und den alsternahen Teilen Rotherbaums niederließen, zog es die orthodoxen Juden ins Grindelviertel mit seinen mehrgeschossigen Gründerzeitbauten. Hier etablierte sich das hauptsächlich in Kleinhandel und Gewerbe tätige Kleinbürgertum. Das jüdische Leben im Viertel war deutlich sichtbar, was den Beinamen „Klein-Jerusalem” brachte.
Heute hat die Jüdische Gemeinde ihren Sitz am Grindelhof, hinter der Joseph-Carlebach-Schule. Philipp Stricharz, 46 Jahre alt und Rechtsanwalt, ist der Erste Vorsitzende der Gemeinde. Wie auch bei anderen Glaubensrichtungen üblich ist der Vorstand überwiegend ehrenamtlich für die Gemeinde tätig.
Blütezeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Insgesamt lebten in den Jahren der Weimarer Republik rund 20.000 Jüdinnen und Juden in Hamburg (Stand 1925). Die Gemeinschaft war selbstbewusst und gut integriert in das Stadtleben. Das Grindelviertel war ihr Zentrum. Hier befand sich nicht nur die Bornplatzsynagoge, sondern mit der 1911 aus der Neustadt an den Grindelhof gezogenen Talmud-Tora-Schule auch das wichtige Bildungshaus der jüdischen Bevölkerung.
Koschere Lebensmittelgeschäfte und hebräische Buchhandlungen prägten das Viertel. Weitere bedeutende Einrichtungen waren hier ebenso zu finden: Das Gartenhaus des Lernvereins „Mekor Chajim” am Grindelhof zum Beispiel oder das Haus der Henry-Jones-Loge in der Hartungstraße 9-11, das den kulturellen und gesellschaftlichen Mittelpunkt des jüdischen Lebens bildete. Heute befinden sich in dem Gebäude die Hamburger Kammerspiele.
Wie die Gemeinden und Glaubensrichtungen entstanden
Was die jüdische Gemeinschaft in Hamburg schon immer ausgezeichnet hat, ist ihre große Einheit. So sollen sich die Juden in Altona, Hamburg und Wandsbek bereits im 17. Jahrhundert in der sogenannten Dreigemeinde zusammengeschlossen haben – obwohl Altona und Wandsbek damals noch nicht zu Hamburg gehörten. Mit ihrer Auflösung im Jahr 1812 gründete sich die Deutsch-Israelitische Gemeinde (DIG) zu Hamburg. Sie war Vorläuferin der heutigen Jüdischen Gemeinde und umfasste die drei Glaubensrichtungen liberal, konservativ und orthodox. Mit rund 6.300 Mitgliedern war die DIG Anfang des 19. Jahrhunderts die größte jüdische Gemeinschaft in Deutschland.
Die liberale Strömung versammelte sich im Neuen Israelitischen Tempelverband. Im 19. Jahrhundert feierte dieser am Alten Steinweg und in der Poolstraße seine Gottesdienste. Im Jahr 1931 eröffneten die liberalen Juden ihren neuen Tempel in der Oberstraße in Harvestehude. 1938 wurde er nach dem Novemberpogrom geschlossen. Das im Bauhausstil errichtete Gebäude überdauerte den Zweiten Weltkrieg. Heute dient es dem Norddeutschen Rundfunk unter dem Namen Rolf-Liebermann-Studio als Konzertsaal und Studio.
Die konservative Strömung innerhalb der DIG formierte sich 1894 und wurde 1923 als Kultusverband anerkannt. Sie unterhielt die Neue Dammtorsynagoge, die 1894/95 im neuislamischen Baustil auf dem heutigen Allendeplatz entstand. Weder die konservative Gemeinschaft noch ihre Synagoge existiert noch. Einzig ein Gedenkstein in einer Grünanlage neben dem Universitätsgebäude im ehemaligen „Pferdestall” erinnert an das Bauwerk.
Die orthodoxen Juden stellten die größte Gruppierung der jüdischen Gemeinschaft dar und schlossen sich im Deutsch-Israelitischen Synagogenverband zusammen. Im Jahr 1927 hatte alleine dieser Verband 1.700 Mitglieder. Die orthodoxen Juden prägten das Grindelviertel, in dem sie mit der 1906 eingeweihten Bornplatzsynagoge auf dem heutigen Joseph-Carlebach-Platz das Haupthaus der DIG besaßen.
Von den dunklen Jahren zum Neubeginn nach 1945
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 steuerte die jüdische Gemeinschaft im Grindel wie in ganz Hamburg ihrem Ende entgegen. Immer mehr Restriktionen schränkten ihr öffentliches, wirtschaftliches und privates Leben ein. Die Judenverfolgung begann. Die Bornplatzsynagoge wurde in der Reichspogromnacht 1938 verwüstet und kurz darauf in Brand gesteckt. 1941 setzte die systematische Deportation der jüdischen Bevölkerung aus der Hansestadt in Vernichtungslager ein – zu diesem Zeitpunkt lebten noch 7.547 Juden in Hamburg. Zuvor waren viele, wenn irgendwie möglich, ins Ausland geflohen.
In 17 Transporten wurden zwischen Oktober 1941 und Februar 1945 insgesamt 5.848 Personen aus Hamburg deportiert, fast alle von ihnen starben. Circa 10.000 Hamburger Juden fielen dem Holocaust zum Opfer. Ihre Grundstücke und Häuser wurden ebenso wie der Besitz der Jüdischen Gemeinde den Nazis übertragen. Im April 1945 zählte Hamburg 647 Juden, die fast alle in Mischehen verheiratet waren.
Zwölf der Überlebenden sollen sich nur wenige Wochen später getroffen haben, um den Neustart der Jüdischen Gemeinde in die Wege zu leiten. So berichtet es der Gemeindevorsitzende Philipp Stricharz. Es war der 8. Juli 1945, und der Ort des Treffens war ein ehemaliges „Judenhaus” an der Rutschbahn. In diesen Häusern hatten die Nationalsozialisten Juden untergebracht, um sie später von dort gesammelt in die Todeslager zu transportieren.
Am 18. September 1945 konstituierte sich die neue Gemeinde offiziell, das Vorhaben hatte etwa 80 Unterstützer. Sie sahen sich als Fortsetzung der Deutsch-Israelitischen Gemeinde, die ihren Status als öffentlich-rechtliche Körperschaft 1938 und ihre rechtliche Eigenständigkeit 1942 verloren hatte.
Die ersten Gottesdienste der jungen Gemeinde fanden im Gebäude der Vaterstädtischen Stiftung an der Kielortallee statt, berichtet Stricharz. 1960 eröffnete die neue Synagoge an der Hohen Weide. Hier finden bis heute Gottesdienste der orthodoxen Strömung statt.
Die liberalen Gottesdienste werden heute im ehemaligen Israelitischen Krankenhaus in der Simon-von-Utrecht-Straße auf St. Pauli abgehalten.
Die Jüdische Gemeinde heute
Einen Meilenstein des wieder aufblühenden jüdischen Lebens in Hamburg – und speziell im Grindelviertel – markierte die Eröffnung des Joseph-Carlebach-Bildungshauses im Jahr 2007 am Grindelhof. Im Gebäude der ehemaligen Talmud-Tora-Schule werden die Kinder von der Krippe bis zum Abitur betreut und unterrichtet.
Das Verhältnis von jüdischen zu nicht-jüdischen Kindern liegt laut Schulleitung bei 50 zu 50. Man verstehe sich als „Schule für alle”. Jüdische Werte und Traditionen sollen im Einklang mit einer offenen und toleranten Weltanschauung vermittelt werden. Für Elisabeth Friedler, Kulturreferentin der Jüdischen Gemeinde, ist das genau das, was sie sich auch für viele andere Bereiche der Gesellschaft wünschen würde: „Wir sagen immer: Wenn die ganze Welt so wäre wie diese Schule, dann wäre sie friedlicher.”
Und es tut sich noch mehr im Viertel. Wo heute auf dem Joseph-Carlebach-Platz nur ein Mosaik in den Pflastersteinen an die ehemalige Bornplatzsynagoge erinnert, soll voraussichtlich 2029 ein Neubau stehen. Der Bund hat zugesagt, den Wiederaufbau der Synagoge mit bis zu 65 Millionen Euro zu unterstützen, geplanter Baubeginn: 2027. Auch das Grundstück befindet sich wieder im Besitz der mittlerweile insgesamt 2.300 Mitglieder zählenden Jüdischen Gemeinde.
Das jüdische Leben in Hamburg sichtbar machen – dieses Ziel verfolgt die Jüdische Gemeinde auch mit Veranstaltungen wie den Jüdischen Filmtagen und den Jüdischen Kulturtagen. Letztere fanden im vergangenen Jahr zum ersten Mal statt – „die Resonanz war überwältigend”, sagt Elisabeth Friedler.
Auf ein ähnliches Resümee hofft die Jüdische Gemeinde beim Grindel-Stadtteilfest, das Mitte September vom Grindel e.V. rund um den Grindelhof veranstaltet wird und bei dem die Jüdische Gemeinde als Teil der Nachbarschaft mit dabei ist.
Die stärkere Sichtbarkeit jüdischen Lebens soll der Öffentlichkeit vermitteln, wie heterogen und aktiv dieses auch in Hamburg ist. Es soll dabei helfen, Vorurteile abzubauen und Klischees zu widerlegen. In Zeiten des wieder aufkeimenden Antisemitismus scheint das auch aus Sicht der Jüdischen Gemeinde nötiger denn je zu sein.
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