Lücken schließen
Sie wollte nach Israel und blieb im Grindelviertel. Dort hat Judith Landshut Wege gefunden, das jüdische Leben weiterzutragen.
Von Julia HaasJudith Landshut lebt über den Baumkronen im zehnten Stock der Grindelhochhäuser. Von ihrem Sofa aus sieht sie bis zu den Hafenkränen. Streift ihr Blick aber durch das Wohnzimmer, verharrt er auf einer anderen Kulisse: gelbe und orangefarbene Häuser inmitten einer Schneelandschaft, im Hintergrund Berge. Das gerahmte Bild zeigt Kremnitz, eine Stadt in der Slowakei: die Heimat ihrer Mutter.
„Das jüdische Kochbuch aus Hamburg”
Nebenan in der Küche ein Foto ihrer Mutter, zwischen Arbeitsplatte und Wandschrank. Sie lächelt. Ihr Lachen steckt Judith Landshut noch heute an. Und doch schwingt Schmerz mit, wenn sie von ihren Eltern erzählt. Sie musste sie verlassen, um das jüdische Leben weiterzutragen. Bis heute versucht sie, dem gerecht zu werden.
Jetzt sitzt sie am Tisch und streicht mit ihrer Hand über ein Buch. „Das jüdische Kochbuch aus Hamburg” steht auf dem Cover. Sie schlägt eine Seite auf und beginnt zu lesen. „Die jemenitische Haushaltshilfe meiner Eltern brachte meiner schwäbischen Mutter die Rezepte und Genüsse der orientalischen Küche bei.” Sie blättert weiter, auf Seite 209 verharrt sie: ein Rezept für Hamantaschen, ein Teiggebäck mit Mohnfüllung.
Rezepte reihen sich an persönliche Geschichten. Judith Landshut hat sie mit zwei anderen Frauen gesammelt. Es sind Rezepte und Erinnerungen der Jüdischen Gemeinde Hamburg, auch solche, die sich während des Zweiten Weltkriegs auf der ganzen Welt verteilten. Viele konnten auf der Flucht kaum etwas mitnehmen, aber hatten ihre Familienrezepte im Gepäck.
Das Kochbuch, ihre frühere Arbeit in der jüdischen Gemeinde, bei allem, was Landshut tut, scheint sie eine Sache anzutreiben: „Wir müssen das Judentum weitergeben, es darf nicht verloren gehen.”
Nachkriegsgeneration
Von 1939 bis 1945 besetzten deutsche Truppen die damalige Tschechoslowakei und ermordeten einen Großteil der jüdischen Bevölkerung. Darunter waren auch Onkel, Tanten und ein Großvater von Judith Landshut. Ihre Eltern überlebten. Fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde sie geboren.
Ihre Eltern sprachen nicht vom Krieg. Manchmal sagte ihr Vater, dass es keinen Gott gebe. Ihre Mutter weinte, wenn sie von ihren Geschwistern erzählte, von denen ihr nur die Fotos an den Wänden geblieben waren. „Wir haben uns nicht getraut, nachzufragen.” Sie selbst hat den Holocaust nicht erlebt – und doch, sagt sie, habe er sie traumatisiert. Sie gehört zur jüdischen Nachkriegsgeneration, die das Loch, das die Nationalsozialisten brutal aufgerissen haben, wieder zu füllen versuchte.
Die Psychologin Bettina Alberti spricht von einer „Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas”. Weil es für die Überlebenden keine seelische Unterstützung gab, alle funktionieren mussten, gaben diese ihre Traumata oft an die nächste Generation weiter.
Ein Neuanfang in Israel
Im August 1968 marschierten russische Soldaten in die Tschechoslowakei ein, wieder wurde das jüdische Leben massiv eingeschränkt, viele verließen das Land. Zu Hause sprach ihre Familie davon, nach Israel zu gehen. Aber ihr Vater war Fleischer und der Laden voll. Er wollte nicht. Ein Jahr später entschieden sie und ihre Schwester, allein zu gehen – sie war damals 19 Jahre alt, ihre Schwester zwei Jahre jünger.
Das Judentum weiterzutragen, bedeutet in Judith Landshuts Fall, ihre Familie zu verlassen. Heute denkt sie immer wieder an jenen 14. Juli 1969. Ihre Großmütter standen vor der Garage und winkten, während die Schwestern von ihren Eltern zum Flughafen gefahren wurden. Ihr Leben hatten sie in zwei Koffer gepackt, um in Israel neu anzufangen.
Sie unterbricht ihre Erzählung und schüttelt den Kopf. „Unsere Eltern wussten, dass wir nicht zurückkommen. Warum haben sie uns das erlaubt?” Es ist diese Zerrissenheit, die sie bis heute umtreibt. Landshut weiß, warum ihre Eltern sie nicht zum Bleiben überredeten: Sie sollte einen jüdischen Mann heiraten.
In den Grindel
Als sie in den 60er Jahren nach Israel kam, lernte sie Hebräisch und heiratete in Jerusalem einen jüdischen Mann. 1971 ging er nach Deutschland, und sie folgte ihm. „Es war nie meine Absicht, hierherzukommen”, sagt sie, als müsse sie sich erklären. „Zu Hause dachten wir, Deutschland sei das schlimmste Land der Welt.”
In der jüdischen Welt war die Meinung nahezu einhellig, schrieb der Professor für Jüdische Geschichte und Kultur Michael Brenner in einem Aufsatz. „Man verdammte die Präsenz eines deutschen Nachkriegsjudentums.” In dem Land zu leben, aus dem Jüdinnen und Juden vertrieben wurden, galt für viele als Verrat am jüdischen Volk. Bis Ende der 1980er blieb die Mitgliederzahl der Jüdischen Gemeinde in Deutschland unter 30.000.
Dennoch folgte Landshut ihrem Mann, der die deutsche Staatsbürgerschaft besaß und Familie in Deutschland hatte. Am 3. November 1971 kamen sie mit dem Zug in Hamburg an. Es regnete. Sie wohnten in der Rothenbaumchaussee, später in der Bogenstraße, sie traten in die Jüdische Gemeinde Hamburg ein, arbeiteten und bekamen drei Söhne.
Eine Chance für die Jüdische Gemeinde
Judith Landshut ärgert sich, wenn sie vergisst, wie viele Buchstaben die Thora umfasst. Sie greift zu ihrem Smartphone und tippt mit dem Zeigefinger auf den Bildschirm. „304.805”, sagt sie.
Manches vergisst sie nie. Zum Beispiel den Brief der Jüdischen Gemeinde, der 1991 im Briefkasten lag. Sie greift zu einem Notizbuch und fährt die Kanten nach. „So groß war er.” Sie hatte ihn immer wieder in der Hand. Die Jüdische Gemeinde suchte damals nach Mitgliedern, die Russisch sprachen, um Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion aufzunehmen. „Im Judentum ist es wichtig, zu helfen”, sagt sie. Also half sie.
Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl hatte 1990 zugesagt, Juden aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland aufzunehmen. Landshut half ihnen bei ihrer Ankunft in Hamburg. Tausende kamen durch ihre Tür und waren glücklich, als jemand Russisch sprach.
Ohne diese Zuwanderung würde es die Jüdische Gemeinde vielleicht nicht mehr geben, sagt sie. Ab 1990 kamen etwa 215.000 jüdische Migrantinnen und Migranten nach Deutschland. Dass es geklappt hat, die Menschen eine Anlaufstelle fanden, dazu hat sie in Hamburg beigetragen. Insgesamt 25 Jahre arbeitete Judith Landshut als Sozialarbeiterin für Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion.
„Ich liebe Hamburg inzwischen”
Heute trifft sie sich jeden Mittwoch mit anderen Senioren der Jüdischen Gemeinde zum Kartenspielen. Auf ihrem Tisch sammelt sie Flyer der Kunsthalle oder für Konzerte und Zeitungsartikel, die sie ihren Söhnen zeigen möchte. Einmal im Jahr fährt sie in die Slowakei, um sich um die Gräber ihrer Familie zu kümmern.
Landshut greift wieder zum Kochbuch und schlägt die letzten Seiten auf – ein Glossar, das verschiedene Begriffe rund um das jüdische Leben erklärt. Auch in Englisch. Sie freut sich, wenn sich auch Menschen außerhalb der Jüdischen Gemeinde dafür interessierten.
„Vielleicht habe ich es vergessen zu sagen”, sagt sie am Ende des Gespräches, „aber ich liebe Hamburg inzwischen.”
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