Voller Körpereinsatz bei der Premiere von „Westend“
Hamburger Kammerspiele: Bei der Premiere des Stücks „Westend“ floss reichlich Blut. Hauptdarsteller Benjamin Sadler verletzte sich in einem Stück, das selbst mit den Verletzungen – den seelischen – seiner Protagonisten spielt. Humorvoll legt Dramatiker Moritz Rinke seinen Finger in die Wunden einer übersättigten Gesellschaft.
Von Nele DeutschmannAm Premierenabend von „Westend“ geht so einiges zu Bruch. Freundschaften, Liebesbeziehungen, Seelenfrieden. Aber auch eine Weinflasche, die Benjamin Sadler nicht mehr rechtzeitig fangen kann. Zum symbolischen Scherbenhaufen gesellt sich ein echter. Trotz stark blutender Hand spielt Sadler weiter.
Immer wieder wischt er Blut von der Bühne oder Scherben zusammen. Während der Zuschauer noch überlegt, ob diese Verletzung nicht genäht werden müsste, fügt sich die körperliche Verletzung perfekt in das Spiel der sich gegenseitig zerfleischenden Figuren ein.
Von der Wichtigkeit, eine Villa zu besitzen
Auf einer weißen Tribüne im Hintergrund sitzen die Schauspieler. Spielen sie gerade nicht, werden sie zu Zuschauern, die sowohl das Geschehen als auch das Publikum betrachten.
Schönheitschirurg Eduard und die Sängerin Charlotte sind gerade frisch in eine Villa eingezogen. „Haus“, sagt Charlotte. „Villa!“, sagt Eduard. Ihr Leben scheint perfekt: Tolles Haus, schöner Garten, beruflicher Erfolg. Dennoch lässt sich die Leere dadurch nicht füllen. Bewegung kommt rein, als Michael, ehemals bester Freund Eduards, überraschend zum Paar stößt.
Wohlstand vs. Trauma
Er ist frisch aus Afghanistan zurück, wo er in Kundus für Ärzte ohne Grenzen arbeitete. Wohlstand prallt auf Trauma. Alltagsprobleme auf Geschichten von sterbenden Kindern, Gewalt und Hilflosigkeit.
Die ohnehin angeschlagene Freundschaft wird auf eine harte Probe gestellt. Verkompliziert wird die Situation durch den Einzug von Lilly – traumatisierte Tochter eines erfolgreichen Filmregisseurs. Zwischen Opiumrausch und Vergangenheitsbewältigung zeigt hier jeder jedem seine Brüste.
Regiedebüt
Nicht immer überzeugt der Text. Hin und wieder fehlt es an Tiefe. Dennoch greift Rinke Themen auf, die beschäftigen und setzt sie kurzweilig um. Schauspieler Carlo Ljubek, der hier erstmals Regie führt, hat das Stück zusammen mit seiner Dramaturgin ansprechend für die Kammerspiele adaptiert und gekürzt, nachdem es in Berlin uraufgeführt wurde.
Katharina Wackernagel und Stephan Kampwirth arbeiten sich als Charlotte und Eduard überzeugend an einander ab. Benjamin Sadler kämpft sich trotz Verletzung als Michael durch den Abend und brilliert besonders im Zusammenspiel mit der 20-jährigen Emma Bading, die als Lilly schwungvoll, mal schrill, mal in ihrer Trauer gefangen, über die Bühne fegt. Das Publikum dankte es mit begeistertem Applaus.