
Eine Krankheit, die keiner sieht
Die Eimsbütteler Künstlerin Sigrid Sandmann hat viele Projekte verwirklicht. Dann erkrankte sie an Corona. Wie die Folgen der Infektion ihr Leben verändert haben.
Von GastSigrid Sandmann kam durch den ruhigen Hintereingang. Sie sitzt in einer Ecke des Eiscafés La Veneziana an der Grindelallee. Morgens ist der Gastraum fast leer. Sandmann weiß das, deshalb wollte sie sich hier treffen.
Post-Covid-Erkrankte fühlen sich „ungesehen“
Seit zwei Jahren leidet sie an Post Covid. Sie kann sich nur noch schlecht konzentrieren und keine Geräusche mehr filtern, ist vergesslich geworden. Die Krankheit hat einen Graben zwischen ihr und anderen Menschen gezogen. Vorsichtig bewegt sie sich an ihm entlang.
Zum Treffen hat sie ein weißes Schild mitgebracht: „Ungesehen“ steht in schwarzen Buchstaben darauf. Das Schild und ihre Atemmaske, auf der „vertrackt“ steht, hat sie bewusst für den Termin ausgewählt: weil sie Kunst mit Wörtern macht und weil diese Wörter ihre persönliche Situation gut abbilden.
Ein Leben als Künstlerin
Ihr Leben lang hat Sandmann als Künstlerin gearbeitet, hat große Lichtprojektionen und Installationen gemacht, bestehend aus Wörtern und Sätzen. Eines ihrer Werke prangte 2007 mehrere Monate an einem der Grindelhochhäuser, in denen sie wohnt. Sie bedruckte ein 35 Meter langes Transparent mit Sätzen aus den Erinnerungen der ersten Mieterinnen und Mieter.
2010 gründete sie das „Wortfindungsamt“. Hier können Menschen Wörter einreichen, die ihnen wichtig sind. Sie werden auf Schilder gedruckt, in der Stadt aufgehängt und fotografiert. Bis 2022 gastierte Sandmann damit in mehreren Hamburger Stadtteilen und anderen Städten Deutschlands.
Nichts mehr wie es war
Ihre letzte Station war im Oktober 2022 in Marburg. Damals, so erinnert sie sich, habe sie sich schon „total erschöpft“ gefühlt. Drei Monate zuvor hatte sie sich mit Corona infiziert, zwei Wochen hohes Fieber folgten. Seitdem ist nichts mehr, wie es war.
„Mein Leben hat sich innerhalb von ein paar Wochen geändert“, sagt sie. Es dauerte weitere Monate und viele Arztbesuche, bis sie die Diagnose Post Covid erhielt.
Heute ist Sandmann froh, wenn sie die Morgenhygiene schafft und einen Pullover anziehen kann, ohne sich sofort wieder hinlegen zu müssen. Für alltägliche Dinge wie Staubsaugen oder Fensterputzen fehlt ihr die Kraft. Besonders traurig macht es sie, nicht mehr am sozialen und kulturellen Leben teilnehmen zu können.
„Sieht man dir nicht an“
Mediziner sprechen von Fatigue, krankhafter Erschöpfung. Wie sich die Krankheit langfristig entwickelt, ist laut einer Studie der Berliner Charité unklar.
Wie früher künstlerisch zu arbeiten, ist für Sandmann nicht möglich – obwohl sie genug Material hätte. Ihr fehlt die geistige und körperliche Energie. Dann zeigt sie doch ein paar Projekte auf ihrem Smartphone. Sie spielt ein Video ab, Sätze tauchen auf. „Das sieht man dir ja gar nicht an“, steht da in weißer Schrift auf schwarzem Hintegrund. Oder: „Könnte doch auch psychisch sein.“ Es sind Sätze, die Sandmann und andere Betroffene von Post Covid oder ME/CFS, dem Chronischen Fatigue-Syndrom, immer wieder hören.
Betroffene fühlen sich nicht ernst genommen
Das Wort „ungesehen“ hält sie immer noch in ihren Händen. Es hat für sie zwei Bedeutungen: Einerseits sei die Krankheit den Betroffenen nicht anzusehen. Andererseits würden sie vom System nicht gesehen werden.
„Wir fühlen uns nicht ernst genommen“, sagt Sandmann und spricht damit auch für die vielen anderen Menschen, mit denen sie sich in mehreren Selbsthilfegruppen vernetzt hat. Freunde wenden sich ab, weil sie meinen, nach zwei Jahren „müsste es dann doch auch mal vorbei sein“. Beim Beantragen von Bürgergeld würden viele Betroffene von den Ämtern stigmatisiert. „Als hätten wir keine Lust zu arbeiten.“ Und auch bei Ärzten und in der Forschung gebe es viel Aufholbedarf.
Im Januar 2023 veröffentlichten Forscher in der Fachzeitschrift Nature eine Studie, nach der etwa 10 Prozent aller Coronainfizierten unter einer Post-Covid-Erkrankung leiden. Weltweit betreffe das mindestens 65 Millionen Menschen. Experten kritisieren, dass sowohl die Forschung als auch die Behandlung von Post Covid nicht ausreichend verfolgt würde.
Ideen in der Schublade
Gerne würde Sandmann mit ihrer Kunst, etwa mit einer großen Installation, auf die Anliegen von Post-Covid- und ME/CFS-Betroffenen aufmerksam machen. Doch um die nötigen finanziellen Mittel für so ein Projekt zu beantragen, fehlt ihr die Kraft.
Vor der Krankheit habe sie immer gearbeitet: Ein Projekt kam nach dem anderen. Heute geht es ihr am besten, wenn sie auf dem Sofa sitzt und aus dem Fenster schaut. Von ihrer Wohnung im 11. Stock der Grindelhochhäuser hat sie einen Blick über die ganze Stadt. Wenn Sandmann doch noch eine Idee für ein Kunstprojekt hat, schreibt sie sie auf und legt den Zettel in eine Schublade – für bessere Zeiten.
Nach dem Gespräch, draußen im Garten des Eiscafés, nimmt sie eine unreife Kastanie in die Hand. Die grüne Hülle mit den Stacheln erinnert sie sofort an das Coronavirus. „Vielleicht kann ich daraus auch mal was machen“, sagt sie und steckt die Kastanie in ihre Umhängetasche.
Anlaufstellen für Post-Covid-Erkrankte
NichtGenesen ist ein Zusammenschluss von Post-Covid-, ME/CFS- und Post-Vac-Erkrankten und ihren Angehörigen. Ziel ist es, den Betroffenen ein Gesicht zu geben und sich für die Forschung, Anerkennung sowie Versorgung der Erkrankten einzusetzen.
Mehr dazu unter www.nichtgenesen.org
Die Long Covid Plattform bietet Betroffenen die Möglichkeit, sich in Selbsthilfegruppen zu vernetzen, oder Kontakt zu Ärzten und Wissenschaftlern aufzunehmen.
Mehr dazu unter www.long-covid-plattform.de
Text: Imke Plesch
lokal. unabhängig. unbestechlich.
Eimsbüttel+

Mit Eimsbüttel+ hast du Zugriff auf alle Plus-Inhalte der Eimsbütteler Nachrichten. Zudem erhältst du exklusive Angebote, Deals und Rabatte von unseren Partnern.