Freischaffende Schüler
Soziale Distanz. Zuhause arbeiten. Nichts davon ist auf dem Lehrplan vorgesehen. Kann das funktionieren? Lenya Keller besucht die zwölfte Klasse der Max-Brauer-Schule. Hier berichtet die 18-jährige Schülerin aus Eimsbüttel von ihrem Schulalltag aus dem Kinderzimmer.
Von GastDer Rat der Lehrer lautet, sich Struktur zu schaffen. Zu einer Zeit aufzustehen, die sich noch morgens nennen lässt. Sich gesund zu ernähren und nicht nur oben herum etwas anzuziehen, das bei einer Videokonferenz halbwegs präsentabel wirkt.
Und nun sitzt man hier. Im Kinderzimmer, am zu kleinen Schreibtisch, seit 8:30 Uhr. Das Porridge noch nicht ganz verdaut, zu viel Kaffee hinterher geschüttet und flach atmend, wegen der zu engen Jeans. Immerhin die fühlt sich verdächtig nach Schule und sozialem Druck an. Auf dem Schreibtisch der Laptop und im Raum ungewohnte Stille. Beides aber keine selbstverständliche Voraussetzung, trifft leider nicht auf jede Schülerin und jeden Schüler zu. Trotz dieser Privilegien ratlos. Was soll ich in den Schulplaner schreiben, der keine Information über ein Ende preisgibt?
Wenn die Schule nach Hause kommt
Die binomischen Formeln, noch vor zwei Jahren so mühevoll in den Kopf gehämmert, helfen jetzt nicht weiter. Auch Faust scheint kein guter Ratgeber. Wie organisiert man so einen Schultag zu Hause? Zu alt, um es die Eltern machen zu lassen. Zu ungleich gewichtet, die Menge der Aufgaben in den verschiedenen Fächern, um sich einfach an den Stundenplan zu halten.
Einige Lehrerinnen und Lehrer scheinen ganz in der technischen Herausforderung aufzugehen. Die Wissenschaftslehrer haben endlich einen Vorsprung. Sie versuchten bisher vergebens, auch nur das kleinste bisschen Technik in der Schule zu etablieren.
Nachmittags dann endlich ein fester Termin: eine Videokonferenz mit der ganzen Klasse. Im Hintergrund breitet sich die Privatsphäre der Mitschüler und Lehrer aus. Über den Mathelehrer erfährt man durch den Wohnzimmerausschnitt mehr als in zwei Jahren Unterricht. Die leicht verpixelten Gesichter der Mitschülerinnen und Mitschülerinnen erscheinen fremd wie nie. Aber es tut gut, zumindest digital ein wenig Normalität zu erleben.
Der Zwang zur Veränderung
Vor nicht allzu langer Zeit waren wir noch alle gemeinsam im Klassenraum, machten uns lustig über den wackelig heranrollenden Overheadprojektor, der uns mit seinem schwachen Lichtstrahl geradewegs zurück in die Sechziger zu beamen schien. Jetzt sind wir über eine wackelige Videoleitung verbunden. Fast vermisst man den Projektor mit seiner altmodischen Beständigkeit. Die Verbindung bricht ab, das Bild stockt. Ist das nun der digitale Fortschritt?
Doch vielleicht ist dieses Zweifeln notwendig. Vielleicht braucht es anfängliche Überforderung, um gemeinsam daran zu wachsen. Könnte dieser Zwang zur Veränderung das Schulsystem modernisieren? Könnte diese Zeit zu besserem Organisationstalent, mehr Eigenverantwortung und technischem Fortschritt führen? Oder doch zu rasantem Leistungsabfall durch fehlende Fähigkeiten und Chancenungleichheit?
Vielleicht ist jetzt die Zeit, alternative Informationsmöglichkeiten wie YouTube und Podcasts endlich anzuerkennen. Vielleicht zeigt sich jetzt die Stärke der so oft belächelten, digitalen Jugend. Wenn in der aktuellen Lage die größten schulischen Herausforderungen anfängliche Überforderung und geforderte Selbstständigkeit sind, kann man doch – zumindest in diesem Punkt – zuversichtlich sein.
Ein Gastbeitrag von Lenya Keller
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