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Kurt Goldschmidt (rechts) ist einer der letzten überlebenden Zeitzeugen. Bei einer Kundgebung zur Pogromnacht in der Sternschanze erzählt er seine Geschichte. Foto: Privatarchiv Kurt Goldschmidt
In einer Werkstatt in der Weidenallee konnten jüdische Jugendliche wie Kurt Goldschmidt (rechts) eine Lehre machen, bis die Nazis sie zur Zwangsarbeit einsetzten. Foto: Privatarchiv Kurt Goldschmidt
Pogromnacht

„Wieso bist du noch hier? Du gehörst nach Jerusalem“

Er überlebte den Holocaust: In diesem Jahr feierte Kurt Goldschmidt seinen 100. Geburtstag. Seine Geschichte schien wohl nie so aktuell wie in diesen Wochen.

Von Vanessa Leitschuh

Es gibt Tage, die sich tief in die Geschichte eingraben. Sie tragen Namen, füllen Chroniken und gliedern Geschichtsbücher. Im Nationalsozialismus war da Hitlers Machtübernahme am 10. Januar 1933, der Judenboykott am 1. April 1933 oder die Pogromnacht am 9. November 1938.

Von diesen Tagen erzählen Kurt Goldschmidts Erinnerungen, doch für ihn tragen sie keine Namen.

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Da war seine erste Prügelei. Kurt war zwölf Jahre alt und der Junge, den er für einen Freund hielt, trug plötzlich eine HJ-Uniform. Warum er noch hier sei, er gehöre nach Jerusalem, fragte er Kurt. “Ihr wart lange genug in Deutschland. Hau ab, du Schwein!” Das war Kurts erste Begegnung mit Judenhass – und das letzte Mal, dass er zum Spielen auf die Straße ging.

Da war der erste Tag in der weiterführenden Schule. Der Lehrer fragte, wer in der Hitlerjugend sei. Alle Hände streckten sich hoch, außer die von Kurt und zwei anderen. “Warum nicht?”, fragte der Lehrer. “Ich bin halb jüdisch”, antwortete Kurt. Nach der Pause musste er zum Direktor. Sein Lehrer wollte keine Juden unterrichten. Nach nur einem Tag musste Kurt Goldschmidt die Schule verlassen.

Da war der Morgen nach der Pogromnacht. Kurt fuhr zu seinem Lehrbetrieb in der Innenstadt, vorbei an Uniformierten und Zivilisten, die am Jungfernstieg jüdische Geschäfte plünderten. An diesem Tag endete seine Lehrzeit. Der jüdische Betrieb war „arisiert“, Juden wie Kurt oder sein Chef durften die Firma nicht mehr betreten.

„Und ich bin noch einmal davongekommen“

Kurt Goldschmidt hat all diese Erinnerungen aufgeschrieben. Über fünfzig Seiten, getippt auf Schreibmaschine, überschrieben mit „Und ich bin noch einmal davongekommen“. In einer Zeile darunter: „Part 1“. Denn Kurt Goldschmidts Leben teilt sich in ein Vorher und ein Nachher, in ein Leben in Nazideutschland und eines in New York.

„Den zweiten Teil schreibe ich später mal auf, bin ich noch nicht dazu gekommen“, sagte der 97-Jährige, als ich ihn vor drei Jahren in seiner New Yorker Wohnung anrief. Im Hintergrund die Stimme einer Frau. „Sonja, ich bin am Telefon. Hamburg ist dran”, rief er. Sonja, seine Frau, lernte er nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kennen. 1949 heirateten sie im Standesamt Eimsbüttel und wanderten in die USA aus. “Damals war der HSV noch groß. Is er ja heute nich’ mehr.” Den Hamburger Fußball verfolgt er noch immer.

Kurt Goldschmidt ist einer der letzten Zeitzeugen. Bei einer Kundgebung zur Pogromnacht in der Sternschanze erzählt er seine Geschichte. Foto: Brian Marcus - Still Here Book
Kurt Goldschmidt ist einer der letzten Zeitzeugen. Bei einer Kundgebung zur Pogromnacht in der Sternschanze erzählt er seine Geschichte. Foto: Brian Marcus – Still Here Book

Hundert Jahre Leben liegen hinter Kurt Goldschmidt. Aber Altern ist eine schlechte Gewohnheit, die ein beschäftigter Mann gar nicht erst aufkommen lässt, schrieb der französische Schriftsteller André Maurois. Kurt blieb beschäftigt. Er arbeitete als Sozialarbeiter in New York, betrieb nebenbei bis ins hohe Alter ein eigenes Reisebüro. “Heute mache ich das nicht mehr.” Aber er erzählt seine Geschichte, wenn man ihn danach fragt.

Aber es war knapp

Kurt Goldschmidt wurde 1923 in St. Pauli geboren, als Sohn eines jüdischen Vaters und einer christlichen Mutter. Als seine Eltern ihr Bettengeschäft in der Silbersackstraße verkauften, zogen sie in die feine Nachbarschaft der Harvestehuder Hochallee. Nach dem Abitur begann Kurt eine Lehre, die mit den Novemberpogromen endete. Die jüdische Gemeinde half damals mit Ausbildungen, jüdische Jugendliche auf die Auswanderung vorzubereiten. Kurt entschied sich für eine Lehre zum Schlosser. Doch nach weniger als einem Jahr schloss die Gestapo die Werkstatt in der Weidenallee und zwang Kurt und seine Klassenkameraden dazu, Militärausrüstung herzustellen.

1941 musste sich Kurt zur Evakuierung melden. Seine Mutter begleitete ihn zur Sammelstelle. Ihr Sohn sei nur Halbjude, sie eine „Arierin“. Kurt durfte vorerst gehen. Dabei war er gar nicht so bedacht darauf, in Hamburg zu bleiben. Er wollte mit seiner Freundin Hannelore zusammen sein, die am nächsten Tag vom Hannoverschen Bahnhof aus deportiert wurde. „Glücklicherweise bin ich dem Wunsch meiner Mutter gefolgt.“

Drei Jahre später erhielt er wieder Post: Man habe ihn als „Volljude“ eingestuft, er werde evakuiert. Im Januar 1945 brachte ein Transport Kurt ins Ghetto von Theresienstadt. Noch heute hört Kurt das Kläffen der Hunde bei ihrer Ankunft.

In Theresienstadt gab es monatlich Abtransporte nach Auschwitz, auch Kurt wurde aufgerufen. Aber sie hatten zu viele bestellt, der Wärter sortierte aus: „Du nach rechts, du nach links.“ Rechts Auschwitz, links zurück in die Baracken. Kurt durfte zu den Baracken.

Bei einem der nächsten Transporte riefen sie Kurt wieder. Doch am nächsten Morgen, gab es keine Autos oder Züge mehr, die sie wegbringen könnten, das Kriegsende stand bevor. Kurt ist davongekommen, ein zweites Mal. Kurz darauf befreite die Rote Armee Theresienstadt.

Kundgebung zur Pogromnacht

„Viele Menschen beschönigen, was geschehen ist. Deshalb ist es so notwendig, an diese schreckliche Zeit zu erinnern”, sagte Kurt Goldschmidt am Telefon. Er erinnert daran.

Am 9. November wird Kurt Goldschmidt bei einer Kundgebung im Schanzenviertel zu den Novemberpogromen von 1938 als einer der wenigen verbliebenen Augenzeugen sprechen. Er wird aus New York zugeschaltet.

Kundgebung: Donnerstag, den 9. November um 18 Uhr, vor dem Eingang der Ganztagsgrundschule Sternschanze an der Altonaer Straße 38.

Die Initiative „Kein Vergessen im Weidenviertel“ organisiert seit einigen Jahren anlässlich der Novemberpogrome im Viertel zwischen Sternschanze, Schlump und Christuskirche eine Kundgebung, die sich an die Nachbarschaft richtet. An den Stolpersteinen werden aus der Nachbarschaft wieder Kerzen aufgestellt.


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