Überholt? Das Gesetz der Straße
Kürzlich habe ich Ole aus Stade kennengelernt. Also ihn nur so ganz kurz, mehr seinen LKW. Ole ist mit Sonja befreundet, steht auf einem Schild an der Blendschutzscheibe, und fährt wohl gerne nach Isny in den Urlaub.
Sonja kenne ich nicht, Isny schon. Das liegt in Bayern, da war ich als kleines Kind mal zur Kur. Sechs Wochen lang, ohne Mama und Papa. Jeder hat irgendein Trauma. Meines ist Isny. Das geht gar nicht. Ole konnte mir also gar nicht sympathisch sein. Ich wollte ihn deshalb auch nicht kennenlernen, seinen LKW schon gar nicht.
Der Stärkere siegt
Trotzdem kamen wir uns nahe, viel zu schnell, viel zu heftig. Ich auf meinem Fahrrad, er mit seinem „Sonst was Tonner“ neben mir, auf enger Straße. Wer hier überholt, ist entweder schlecht drauf oder fährt im Sommer nach Isny. Bei Ole tippe ich auf beides. Vermutlich hat er mich nicht mal gesehen oder weiß gar nicht, dass Kraftfahrer 1,50 Meter Abstand halten müssen, wenn sie Radfahrer überholen. Immer und überall. Ist die Straße zu eng, bedeutet das Überholverbot für alles auf vier Rädern, bis wieder Platz ist. Auch für Ole aus Stade.
Theoretisch. Praktisch ist die Vorschrift nichts wert. Für Kraftfahrer sind Radfahrer auf der Straße in erster Linie lästig. Vor allem wenn kein Platz fürs Überholen ist. Dann wird eben Platz gemacht. Irgendwie. Der Stärkere siegt. Hinterher heißt es: „Ging doch ganz schnell, so eng war das doch gar nicht.“ War es doch.
Neben der Spur
Vierspurige Straßen in Deutschland sind im Schnitt vier Meter breit, zweispurige Straßen meist 2,5 Meter. Gehen davon die 1,50 Meter für den Radweg ab, bleibt verdammt wenig Platz zum Überholen, wenn man nicht in den Gegenverkehr will. Eigentlich gar keiner. Ein Standard-PKW ist 180 Zentimeter breit. SUVs brauchen noch mehr Platz. Bei Oles LKW habe ich nicht nachgemessen. Keine Zeit. Ich musste runter vom Rad, mich in Sicherheit bringen und schimpfen. Doch Ole war längst weg.
Dabei sind diese neuen Radwege auf der Straße das neue Hochamt der Verkehrssicherheit. Experten halten sie für besonders sicher. Mein Radweg hatte sogar eine durchgezogene Linie, was ihn zu einem sogenannten Radfahrstreifen macht. Radwege mit gestrichelten Linien sind Schutzstreifen. Eine Art Radfahrstreifen light.
Es gibt auch RIMs, Radfahrstreifen in Mittellage und meistens knallrot. Aber das führt jetzt zu weit. Die weiße Linie am Straßenrand macht auf jeden Fall den Unterschied. Auf Schutzstreifen dürfen die Oles dieser Stadt auch mal kurz halten, schnell in den Spätshop, Zigaretten holen oder die BILD. Auf durchgezogenen Linien darf nicht mal die Oma zum Friseur springen.
Das allgemeine Rücksichtsgebot
Theoretisch natürlich. Denn Ole wird lieber von Sonja oder Isny träumen, als das Kleingedruckte der Straßenverkehrsordnung zu studieren. Ich übrigens auch nicht. Ich will einfach gut und sicher mit meinem Rad fahren. Immer und überall. Sicherheits-, Radfahrstreifen, RIM, gestrichelte-durchgezogene Linie hin und her.
Der gute alte Radweg hinter parkenden Autos oder als Teil des Fußweges ist übrigens out. Viel zu gefährlich, sagen die Experten, weil Autos uns Radfahrer da oft übersehen. Letztes Jahr sind bundesweit 38 Radfahrer durch LKWs getötet worden, die rechts abbiegen wollten und den Radfahrer übersehen haben.
Ole hat mich gesehen, wollte nur nicht warten. Das kostet. Auch nur theoretisch. Wer Radfahrer auf Radfahrstreifen schneidet, gefährdet den Straßenverkehr. Auf Schutzstreifen ist das nur ein Verstoß gegen das allgemeine Rücksichtsgebot. Und billiger. Das verrate ich Ole aber nicht. Wegen Isny.
Martin Busche arbeitet als Journalist und Pressesprecher. In seiner Freizeit fährt er gerne Rad.
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