Aus dem Blick: Alltagsrassismus erkennen und verhindern
Vier Frauen, Mütter und Eimsbüttelerinnen: Sie alle haben unterschiedliche Geschichten. Was sie vereint, ist die Welt, in der ihre Töchter einmal leben sollen. Mit der Initiative „WeAre“ setzen sie sich für antirassistische Erziehung ein. Über Rassismus im Alltag und den Mut, die Perspektive zu wechseln.
Von Julia HaasImmer wieder sind sie da. Sie scheinen niemals zu verschwinden: die Hände, die sich deinem Kopf nähern, die Finger, die nach deinen Haaren greifen. Es ziept und zwickt. Niemand sagt etwas. Wenn du an der Ampel stehst, zeigt ein Kind auf dich: „Mama, schau mal die Haare.” Stille. Ein beschämter Blick auf den Boden. Das alles, weil deine Haare anders sind.
Griselda Welsing hat sie bis heute nicht vergessen: die Hände, die in ihrer Kindheit immer wieder und meist ungefragt, nach ihren Afrolocken griffen. Seit sie Mutter ist, werden ihr Dinge, die sie vor langem aufgehört hat zu hinterfragen, neu bewusst. Mit welchen Themen wird sich ihre Tochter, die anders als ihre Mutter als „weiß” gelesen wird, einmal auseinandersetzen müssen? Es ist eine Frage, die die 39-Jährige mit Linda Schulz, Aster Oberreit und Kira Römer teilt.
Denkmuster auflösen
„Nur weil man nicht von Rassismus verletzt wird, bedeutet das nicht, nicht betroffen zu sein”, erklärt Linda. Sie ist weiß, hat zwei weiße Töchter. Anders als bei Aster, Kira und Griselda spielte Rassismus in ihrem Umfeld lange keine Rolle. Wenn Linda, 33, davon erzählt, schwingt Scham in ihrer Stimme mit.
Vor zwei Jahren erlebt sie ihren Schlüsselmoment: Während eines Seminars zu rassismuskritischer Unterrichtsgestaltung erkennt die angehende Lehrerin, dass sie selbst rassistische Strukturen in sich trägt – unbewusst, aufgrund fehlender Aufklärung und festgefahrener Konventionen. Die zweifache Mutter will das ändern. Sie will Vorbild sein und Verantwortung übernehmen. Für sich, für ihre Töchter und andere.
Im Sommer gründen die vier Eimsbüttelerinnen die Initiative WeAre. Ihr Ziel ist es, antirassistische Bildung schon im frühkindlichen Kontext einzubringen. Sie wollen festgefahrene Denkmuster auflösen und zum Umdenken auffordern. Ihre Botschaft: „Wir müssen alle in Bewegung kommen, ein Bewusstsein schaffen und uns fragen, in welcher Welt unsere Kinder leben sollen.”
Für ihre Töchter
Nach Angaben des Statistischen Bundesamts haben in Deutschland vier von zehn Kindern im Alter zwischen null und fünf Jahren einen Migrationshintergrund. Die Journalistin Azadê Pesmen ersetzt den Begriff „Migrationshintergrund” durch „Migrationshaft”.
Denn: An vielen haftet das vom Bundesamt statistisch generierte Kriterium ein Leben lang. „Als wäre man in Haft. Entlassen wird man nie. Auch nicht in fünfter Generation.” Sei es durch Namen, Hautfarbe oder Haarstruktur, die in alltäglichen Situationen noch immer wie Fesseln sein können. Griselda, Linda, Kira und Aster wollen sie aufbrechen.
Angefangen hat ihr gemeinsamer Weg in der Kita ihrer Töchter. Fragen und Anregungen für eine bewusste antirassistische Erziehung im Kita-Alltag fanden dort nur wenig Gehör. Statt zu warten, beschließen sie zu handeln. Nach dem Motto „Einfach machen” geben sie ihrer Mission mit WeAre einen Rahmen.
Neue Blickwinkel
Ihre Stimmen finden Anklang. Eltern, Großeltern, Lehrer und Erzieher wollen mehr über Alltagsrassismus lernen – lernen, ihn zu verhindern. Da die Corona-Pandemie einen analogen Raum für Austausch verhindert, gehen die vier Mütter auf Instagram online. Im Januar gaben sie ihr erstes Webinar. Darin ging es um Situationen, die zum Perspektivwechsel mahnen.
Du stehst mit deiner Tochter an der Ampel. Neben euch ein Mensch mit Afro. „Mama, schau mal die Haare.” Stille. Du schaust beschämt zu Boden. Unbehagen breitet sich aus. Dein Magen zieht sich zusammen. Ein leises „Psst”, dann wird die Ampel grün.
Es sind Momente wie diese, in denen es wichtig ist, ein Vorbild zu sein. Momente, in denen wir nicht versteinern, sondern handlungsfähig bleiben sollten. Unseren Kindern Haltung vorleben sollten, erklären die WeAre-Initiatorinnen. Denn Schweigen ist nicht immer Gold: Reden schafft Vertrauen und Normalität für das vermeintlich „Andere”. Warum sollten Kinder auf etwas zeigen, das ihnen vertraut und für sie normal ist? Wenn es keine Grenze zum „Anderen” gibt, ist es dann überhaupt anders?
Um neue Blickwinkel einzunehmen und Barrieren zu überwinden, braucht es Mut; Mut für große Missionen und kleine Impulse – am Esstisch zu Hause oder an der Ampel auf der Straße. Damit es selbstverständlich wird, dass wir nicht alle dieselben Haare, nicht alle dieselbe Haut, nicht alle denselben Namen tragen. Weil wir alle Menschen sind: We Are.
Mehr zu WeAre bei Instagram unter @weare.anti_rassismus_edukation
Kinderbuchempfehlung der WeAre-Initiatorinnen: „Ein Tag im Schnee“ von Ezra Jack Keats
„Ein Tag im Schnee” erzählt von Peter, der lachenden Schneemännern begegnet und für die Schneeballschlacht der Großen einfach noch zu klein ist. Die Geschichte von Ezra Jack Keats, die erstmals 1962 in den USA erschienen ist, zeigt: Vielfalt in der Kinderbuchwelt kann so einfach sein. Denn: Wie alle Kindern liebt Peter die kleinen Abenteuer im Schnee – nicht mehr und nicht weniger.
Griselda, Linda, Kira und Aster wollen zum Perspektivwechsel anregen. Mit beispielhaften Szenarien geben die WeAre-Initiatorinnen ein Verständnis von Alltagsrassismus: