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Nischengeschäfte wie 70s Stereo im Grindelhof nennt Quartiersmanagerin Harriet Witte auch die „Perlen des Grindels”. Foto: Rainer Wiemers
Nischengeschäfte wie 70s Stereo im Grindelhof nennt Quartiersmanagerin Harriet Witte auch die „Perlen des Grindels” (rechts). Fotos: Rainer Wiemers
Magazin #25

Das Grindelviertel: Im-Um-Auf-Bruch

Biologiestunde. Heute auf dem Plan: das Grindelviertel. Besuch in einem ungewöhnlichen Biotop voller Wirtschaft und Wandel.

Von Alana Tongers

Als sich an einem Abend im Dezember 2020 die Türen das letzte Mal und für immer schlossen, da war Pappnase & Co 32 Jahre Teil des Grindelviertels. Einige Wochen erst war es her, da hatte der Science-Fiction-Laden Andere Welten auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufgegeben. Nach 37 Jahren. Das Grindelviertel, erzählte eine Pappnase-Mitarbeiterin kurz vor der Schließung, sei wie ein Ökosystem organisch gewachsen. Nun sterbe es auch organisch.

Harriet Witte will das verhindern. Sie ist Quartiersmanagerin des Grindel e.V., so etwas wie Haus­meisterin, Seelsorgerin und Stadt­planerin in einem. Und Forscherin, wenn es darum geht ­herauszufinden, wo es im Gebiet zwischen Haller­straße und Grindelallee hakt.

Kultivierter Tumult im Grindelviertel

Den Verein gibt es seit 2003, ­gegründet von Gewerbetreibenden und Frei­beruflern, mit dem Ziel, das Grindel­viertel attraktiv zu ­gestalten. Für sich selbst und Besuchende. Wenn Witte durch die Straßen ihres Viertels läuft, dann kann sie zu jedem Laden etwas erzählen. Manchmal bauscht sich ihre Stimme auf, sie beginnt schnell zu sprechen, zu zeigen: Hier läuft es gut, da gibt es Probleme, dort will der Grindel e.V. ­helfen, die Lokalwirtschaft besser zu vernetzen.

Denn das Grindelviertel lebt vom kultivierten Tumult auf seinen Straßen. Von den Cafés und Bars, von den Bühnen, auf denen Punkbands spielen und Theater gespielt wird. Vom akademischen Leben um den Uni-Campus, vom jüdischen Leben um die Synagoge und die Talmud-Tora-Schule. Und vom Einzelhandel, den Geschäften, die mit ihren Schaufenstern in Altbau-Erdgeschossen das Bild des Viertels prägen.

Witte steht auf dem Hallerplatz, Jacke, Hose, Fahrrad in abgestimmtem Herbstgrün, und erzählt. Davon, dass sie das Grindelviertel einmal den „Stadtteil der Bücher” nannten – wegen der zwölf Buchhandlungen, die das Quartier ausmachten. Heute sind davon drei übrig. Eine Entwicklung, die stellvertretend für vieles im Grindel steht.

Pessimum oder: Die, die gehen mussten

Richard Meyer ist einer, der von diesen Veränderungen erzählen kann. Über drei Jahrzehnte betrieben er und seine Frau Andere Welten. Mit Anfang 70 entscheiden sie, das Ladengeschäft in der Grindelallee aufzugeben. Weil die Umsätze seit Jahren sinken, weil sie keine Nachfolger finden, weil sie keine Kraft haben, Andere Welten noch einmal auf die Zukunft vorzubereiten. Dazu die hohen Mieten.

Zeit abgelaufen: Im Juni 2020 hat Richard Meyer nach über dreißig Jahren seinen Science-Fiction-Laden Andere Welten in der Grindelallee geschlossen. Heute ist ein Reformhaus in den Räumen. Foto: Rainer Wiemers

Pessimum nennt man das in der Biologie: der Bereich, in dem ein Organismus gerade noch existieren, aber nicht auf Dauer überleben kann. Wo früher Lichtschwerter hingen und Zauberstäbe verkauft wurden, gibt es jetzt ­geschrotete Leinsamen und Massageöle. Im letzten Jahr ist ein Reformhaus von der anderen Straßenseite rübergezogen. Meyer ist froh, dass es etwas Sinnvolles ist. Nicht der nächste Friseur, der nächste Dönerladen, der nächste Ein-Euro-Shop.

Wenn er jetzt, mehr als ein Jahr nach der Schließung seines Ladens, durchs Viertel läuft, kommt ihm vieles selbst wie aus einer anderen Welt vor. „Du gehst durch die Straßen, siehst leere Geschäfte und fragst dich: Was war da?”, sagt er. In seinem Grindelviertel der 80er war Beständigkeit. Heute ändern sich die Dinge schneller, als er sie verfolgen kann.

Resilienz oder: Die, die standhaft bleiben

Doch wo sich ein Ökosystem verändert, da ist immer auch Resilienz. Stabilität, die das Gefüge im Um­bruch zusammenhält. Diese Läden, die es eigentlich nicht mehr geben dürfte, die aber trotzdem noch da sind. „Perlen des Grindelviertels” nennt Harriet Witte sie. Direkt am Hallerplatz liegt eine von ihnen. Witte begrüßt Ladeninhaberin Su­sanne Lange mit freudigem Winken, mit einem „Lange nicht gesehen!” von der anderen Straßenseite. Seit fast 40 Jahren sind hier Antiquitäten & Novitäten Lange zuhause.

Seit fast 40 Jahren im Stadtteil: Das Antiquitätengeschäft von Susanne (Mitte) und Gerhard Lange. Foto: Rainer Wiemers

Ende Oktober gehörte das Schaufenster von Frau Bücher(t) allein Autoren des Grindelviertels. Fotos: Rainer Wiemers

Unsere Autorin Alana Tongers unterwegs im Grindelviertel mit Quartiersmanagerin Harriet Witte. Foto: Rainer Wiemers

Draußen fegt der Herbstwind Blätter über den Asphalt, von innen schwappt warmes Licht auf den Bürgersteig. Da stapeln sich Hutschachteln neben Kissen, Kerzen und Keramik. Hauptgeschäft aber sind Möbel, die Inhaber Gerhard Lange in der integrierten Werkstatt restauriert. Sie bewahren Altes – in ihrem Laden und mit ihrem Geschäft an sich.

Wohl und willkommen fühlen

Um sie herum habe sich in all den Jahren viel verändert. Inhabergeführte Geschäfte schlossen, mehr Gastronomie eröffnete. „Aber wir sind immer geblieben”, meint Susanne Lange. Weil sie sich auf die Individualität ihres Ladens konzentrierten. Darauf, dass sich Kunden bei ihnen wohl und willkommen fühlen. Niemand wird schief angeguckt, auch nicht, wer nur eine Postkarte kauft. „Ich weiß, wie ich mich fühle, wenn ich in einen Laden in Eppendorf gehe”, sagt Harriet Witte, lacht, rollt mit den Augen. „Zum Glück sind wir nicht da.”

Das Grindelviertel will schick sein, aber nicht poliert. Wie bei Casablanca, ein paar Straßen weiter. Da steht Inhaberin Ulla Kemna auf einer Leiter, legt Hosen zusammen, sortiert sie fein säuberlich ins Regal. Seit 45 Jahren ist ihr Eckladen eine Instanz im Stadtteil. Sie verkauft Mode, die gut anzuziehen und bequem sein soll. Der Stil des Grindel­viertels in einer Boutique.

Inhaberin Ulla Kemna (links) beschreibt sich selbst als fleißig – ihre Boutique „Casablanca“ gibt es seit 45 Jahren im Grindelviertel. Fynn Schütz (rechts) versucht mit dem Kaya Shisha Store neue Geschäftsideen in die Grindelallee zu bringen. Foto: Rainer Wiemers

Fleißig seien sie in der Coronazeit gewesen, erzählt Kemna. Haben sich auf das verlassen, was auch sonst den Kern des Geschäfts ausmacht: die Beratung. Wie sonst sollen Läden wie ihrer gegen die Konkurrenz der Ketten bestehen?

Als niemand ins Geschäft kommen konnte, berät sie am Telefon weiter. Ihre Kundinnen können dann mehrere Hosen abholen, zuhause anprobieren, wieder zurückgeben. Gleichzeitig konzentrierte sich Kemna auf Lockdown-konforme Mode. „Die Leute wollten es cozy”, erzählt die Inhaberin. Hosen für die Couch statt fürs Büro. Und gerne eine Größe größer. „40 und 42 gingen besonders gut weg”, erzählt sie und lacht.

Adaption oder: Die, die neu erfinden

Neben den Urgewächsen des Grindels sind da jene, die versuchen, neue Ideen zu etablieren. Adaption statt Aufgeben. Jana Büchert steht in der Buchhandlung, in der sie jahrelang gearbeitet und die sie dann zu ihrer eigenen gemacht hat. Sie hat die Traditionsbuchhandlung „PäKi” übernommen, seit 1975 fester Bestandteil des Grindelviertels. Und entschied, den Laden, der sich mit seinem Fokus auf Pädagogik-Fachliteratur einen Namen gemacht hatte, neu aufzustellen.

„Frau Bücher(t)“ steht seit 2018 in großen Lettern auf der Altbaufassade. „Wir identifizieren uns jetzt als Stadtteilbuchhandlung”, erzählt sie. Die Ladenfläche verkleinert sie um fast die Hälfte, Belletristik ersetzt Sachbücher, ergänzt durch ein Spielwaren-Angebot. Im Schaufenster Bücher von Autoren, die aus dem Grindelviertel kommen.

„Tot, grau, wüstig“

Das Konzept geht auf, auch während der Corona-Schließungen. Kunden kommen, holen Bücher ab, halten dem Laden die Treue. Jetzt, wo das Leben ins Grindelviertel zurückgekehrt ist, profitiert Frau Bücher(t) außerdem von den vielen Cafés, die sich rund um die Buchhandlung angesiedelt haben. Sie sei froh, ihren Laden in diesem hinteren Teil des Grindelviertels zu haben, dort, wo das studentische Leben ist.

Vorne, an der Grindelallee, da fühle es sich zwischen den Busspuren und all dem Beton an wie auf der Autobahn. „Tot, grau, wüstig”, sagt Büchert.

Vor wenigen Jahren noch, meint Richard Meyer, sei die Kreuzung an der Grindelallee mit der Buch­handlung 2001, Pappnase und Andere Welten ein Bermuda-Dreieck gewesen. Da gab es Gründe, zu verweilen, einen halben Tag konnte man hier verbringen. Heute erklärt auch er sie für tot. Die Grindelallee, eine klaffende Wunde im Biotop?

Doch auch hier gibt es Läden, die sich durchsetzen. Witte erzählt von einer neuen Pizzeria, von Blumenläden, einem Espresso-Repair-Shop. „Das sind mutige Menschen, die für ein Viertel eine großartige Ausstrahlung haben.” Klar, sie wünsche sich einen besseren Branchenmix. Weniger Nailsalons, mehr Lebensmittelgeschäfte, eine kleine Metzgerei, vielleicht einen Fischladen. Stattdessen läuft sie an einer Ladenfront vorbei, zugeklebt mit lila Sichtschutz. Hier hat der Lebensmittellieferant „Flink” ein Lager eröffnet, das zweite im Quartier innerhalb kurzer Zeit.

Lieferdienste wie Flink nutzen leerstehende Ge­schäftsflächen und werden hier mit ihren Lagern ansässig. Foto: Rainer Wiemers

Daneben ein Shishaladen, Witte winkt hinein. Da hätten viele Vorurteile, sagt sie. Aber der Laden zeige für sie, wie junge Menschen mit jungen Konzepten die lokale Wirtschaft beleben können. Im Kaya Shisha Store verkaufen sie nicht nur Shisha-Tabak und Zubehör, sondern sind auch ins Cannabis-Geschäft eingestiegen. Für Witte sind inhabergeführte Läden mit Konzept zukunftsweisend. „Da werden Werte greifbar, Werte gelebt, findet Auseinandersetzung statt und Gemeinschaft”, meint Witte. „Mit allen Gefühlen und auch Reibung – aber lebendig, analog, vor Ort.”

Das Grindviertel vernetzen

Um den Einzelhandel zu unterstützen, will Witte mit dem Verein für mehr Vernetzung sorgen. Die Läden über ihre Gemeinsamkeiten stärken. Wenn sie vom Grindelviertel und dem Verein erzählt, fallen immer wieder die Stichworte „Wissen und Kultur”. Sie sind für Witte Standbeine, auf die der Grindel setzen muss.

Richard Meyer sieht das ähnlich. Die Einzelhändler zusammenbringen, Stimmen bündeln, das sei vielleicht die einzige Chance für das Quartier. Der Standort bringe so viel Besonderes mit – nun müsse er sich auch besonders zeigen. „Wäre ich jünger”, sagt er, „ich würde um das Viertel kämpfen.”

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