Mein Nachbar, der Nazi
Jahrelang hetzt ein Mann mit rassistischen Parolen gegen seine Nachbarn. Niemand reagiert. Dann fällt ein Schuss.
Von Julia HaasManche Wunden sind tief, aber bluten nicht. Sie heilen kaum, und sind doch nicht zu sehen. Sie verändern alles, während das Leben drumherum weitergeht. In den Nachbarwohnungen, in der Kneipe nebenan.
Das Wohnhaus am Tibarg
Vier U-Bahn-Stationen von der Osterstraße entfernt legt sich der Schleier der Vorstadt über Eimsbüttel. Hier in Niendorf werden die Vorgärten größer und die Häuser kleiner. Man trifft sich im Eiscafé im Tibarg-Center oder zufällig am Geldautomaten. Viele wohnen schon immer hier. Andere seit Kurzem. Der Stadtteil wächst und ist beliebt, wenn die Wohnung in Eimsbüttel zu klein oder zu teuer wird.
Versteckt am Rücken des Tibarg-Centers liegt ein Haus, vom baugleichen Vorderhaus verdeckt. Verkehrsgünstig, aber ruhig, wirbt eine Immobilienanzeige. „Kein Hochhaus- oder Betonblock-Feeling.” Zwei Zimmer, knapp 50 Quadratmeter plus Balkon für 700 Euro kalt.
Maira* ist Anfang 20, als sie 2021 auf eine ähnliche Anzeige gestoßen sein muss. Sie hat ihre Ausbildung abgeschlossen, will mit ihrem Verlobten eine Familie gründen. In Niendorf soll der Grundstein dafür entstehen – ein Zuhause.
Im Oktober zieht sie in die Erdgeschosswohnung am Tibarg. Zunächst alleine, ihr Partner ist noch an eine andere Stadt gebunden. So oft es möglich ist, besucht er sie.
Der Hass ein Stockwerk höher
Ihre Nachbarn im Haus verteilen sich auf vier Wohnungen. Wer sich im Hausflur trifft, wechselt ein paar Worte. Man kennt sich – zumindest flüchtig. Noch bevor Maira alle Umzugskisten ausgepackt hat, sprechen sie Nachbarn darauf an, wie hellhörig das Haus sei. Zwischen ihren Vormietern und dem Nachbar über ihr habe es Probleme deswegen gegeben. Sie solle besser nicht zu laut sein.
Von dem Hass, der tatsächlich ein Stockwerk über Maira brodelt, ahnt sie nichts. Zum ersten Mal zeigt er sich nur wenige Tage nach ihrem Einzug.
Es klingelt an der Wohnungstür, Mairas Verlobter öffnet. Er trägt ein traditionelles pakistanisches Gewand. Im Hausflur blickt er in das aufgebrachte Gesicht eines Mannes in seinen Mittvierzigern. Statt eines Willkommensgrußes überbringt der Nachbar von oben Lärmbeschwerden. Sein Blick verharrt auf dem Gewand. „Gehörst du zu den Taliban?”, fragt Ulf M.
Der Terror
Ulf M. wohnt direkt über Maira. In seinem Wohnzimmer hängt eine Fahne über dem Sofa, „Refugees not welcome” steht darauf. In seinem Schrank liegen Bilder von Hitler, Messer mit Hakenkreuz und andere Waffen. Auf seinem Handy finden sich Fotos von ihm mit Hitlergruß und Whatsapp-Nachrichten voller Verachtung. „Skinhead für immer – ich hasse alle“, schreibt er einmal. Worte, die im Vergleich zu anderen Chatauszügen harmlos wirken. Beweise, die später vor Gericht eine maßgebliche Rolle spielen.
In den nächsten Monaten kommt es in dem Haus, in dem Maira ein Zuhause schaffen wollte, zur Zerreißprobe. Immer wieder alarmiert Ulf M. die Polizei – angeblich, weil es in der Wohnung unter ihm zu laut sei.
Einmal klingelt die Polizei, als ein Kind zu Besuch ist. Ein anderes Mal, als Maira bereits schläft. In ihrem Briefkasten findet sie regelmäßig Ausdrucke der Hausordnung. Im Hausflur hängen Zettel mit der Aufschrift „der Terror muss aufhören”.
Maira weiß, dass sich die Botschaft an sie richtet und dass der Verfasser über ihr wohnt. Sie empfängt keine Freunde mehr, weiß nicht, was sie tun soll, damit all das aufhört. Nur ihr Verlobter, der inzwischen ihr Mann ist, und seine Mutter kommen noch zu Besuch.
Während des Fastenmonats Ramadan, der es Muslimen nur nach Sonnenuntergang und vor Sonnenaufgang erlaubt zu essen, ist Mairas Angst, in der Nacht Geräusche zu machen, so groß, dass sie beginnt, alle Vorbereitungen auf den Tag zu verschieben.
Die Kneipe
Dann kommt der 27. Mai 2023. „Diese Affen sollen verschwinden und dorthin gehen, wo sie herkommen”, sagt Ulf M. am Morgen der Tat zu einer Nachbarin.
Es ist etwa 17:30 Uhr, als Ulf M. seine Wohnung verlässt. Knapp hundert Meter von seiner Wohnung entfernt liegt seine Stammkneipe. In blauen Versalien prangt der Name Tibarg-Treff auf einer weißen Leuchttafel.
An der Decke hängt eine Deutschland-Flagge, an der Wand ein HSV-Schal. Ulf M. scheint im Tibarg-Treff zum Inventar zu gehören wie die Bierdeckel auf den Tischen. Nachdem er einen Schlaganfall erlitt und seine Arbeitsstelle als Maurer verlor, entwickelte sich der Treff zur Konstanten in seinem Leben.
Die Waffe
Wie so oft beschwert er sich über seine Nachbarin ein Stockwerk tiefer und steigert sich in ausländerfeindliche Parolen. Er trinkt so viel Korn und Bier, dass er die Kneipe gegen 20 Uhr mit über drei Promille verlässt, wie ein Alkoholtest Stunden später ergibt.
Als er bemerkt, dass sein Fahrrad vor der Kneipe nicht angeschlossen ist, ruft Ulf M. die Polizei. Doch die Beamten sehen keinen Grund, Ermittlungen einzuleiten. Das Fahrrad ist da, nur das Schloss beschädigt.
Um 21:22 Uhr ist Ulf M. wieder in seiner Wohnung. Ab jetzt filmt er alles mit, richtet seine Handykamera auf ein Gewehr und sagt: „Gleich sterbt ihr.” Drei Kugeln lädt er in die Waffe.
Der Schuss
Dann marschiert er einen Stock tiefer. Vor der Wohnungstür seiner Nachbarin fragt er, ob er klingeln oder direkt ballern soll. Er schießt. Direkt. Auf einer Höhe von 103 Zentimetern durchdringt die Kugel die Tür.
Maira sitzt mit ihrer Schwiegermutter auf dem Sofa. Gemeinsam schauen sie fern. Dann ein Knall. Als Maira von dem Geräusch getrieben zur Tür rennt, sieht sie nicht, dass sich eine Kugel durch die Kommode am Ende des Flurs in die Wand gebohrt hat. Sie blickt durch den Türspion in das helle Treppenhaus und erkennt ihren Nachbarn Ulf M. Er bückt sich, um etwas vom Boden aufzuheben.
Während die anderen Nachbarn den Knall für einen Böller halten, entscheidet sich Ulf M. dagegen, die letzten beiden Patronen abzufeuern. Er geht zurück in seine Wohnung – und wartet, bis das Blaulicht die Straße erhellt.
„Wenn ich wieder rauskomme, werde ich zum Massenmörder”, sagt Ulf M. kurz nach seiner Festnahme.
Der Schock
Nach der Tat berichten mehrere Medien von einem Nachbarschaftsstreit, der eskaliert sein soll. Doch schnell zeichnet sich ab: Ulf M. hat aus fremdenfeindlichen Gründen auf die Tür seiner Nachbarin mit pakistanischen Wurzeln geschossen.
Niendorf ist entsetzt. Im Juli versammeln sich rund hundert Menschen am Tibarg-Center, um gegen Rassismus zu demonstrieren.
Eine öffentliche Stellungnahme der Politik bleibt aus – obwohl sich immer deutlicher abzeichnet: Ulf M. hielt seine rechten Weltbilder nicht verborgen in einem Wohnzimmerschrank.
Die Vorgeschichte
In seiner Jugend trat Ulf M. in der Skinhead- und Nazi-Szene auf. Später bekannte er sich als NDP-Wähler. Entwicklungen, die die Staatsanwaltschaft in ihrem Schlussplädoyer im späteren Gerichtsprozess aufführt. Vor allem geht es aber darum, was sich in den Jahren vor Mairas Einzug im Haus abspielte:
Anfang 2019 lebt Ulf M. bereits einige Jahre am Tibarg, als eine Sozialarbeiterin die baugleiche Wohnung unter ihm an minderjährige Geflüchtete untervermietet. Die Jugendlichen treffen Freunde, hören Musik und feiern. Geräusche, die auch in die Wohnung von Ulf M. dringen. Im April schreibt er an die Wohnungseigentümerin, er brauche Ruhe, es müsse wieder Normalität einkehren. Bald entwickeln sich die Lärmbeschwerden in rassistische Beleidigungen – und Drohungen.
„Das ist ein Gejaule, als würden Indianern die Nägel rausgezogen”, oder „da bleibt einem nur der Amoklauf”, schreibt er in dieser Zeit in Chats.
Die neue Mieterin
Als die Wohnung unter ihm 2021 frei wird, soll Ulf M. gegenüber der Vermieterin genaue Vorstellungen von seinen künftigen Nachbarn geäußert haben: Er wünsche sich ein ruhiges, älteres Pärchen – aus Deutschland.
Doch es kommt anders. Kurz nachdem die neue Nachbarin eingezogen ist, klingelt Ulf M., um sich zu beschweren. Ein Mann öffnet. Danach schreibt Ulf M. der Hausverwaltung, im Flüchtlingslager gewesen zu sein. Und in einem Chat sagt er: „Da wohnen zehn Taliban und machen Lärm für 100.”
„Ich lege euch um, mir egal, ob ich dafür 20 Jahre im Knast sitze”, sagt Ulf M. in einem Video im März 2023.
Das Urteil
201 Tage sind seit dem Schuss vergangen. Maira befindet sich in einer Traumatherapie, ihre Wohnung hat sie nur ein einziges Mal und mit Begleitung wieder betreten. Zur Urteilsverkündung am Landgericht Hamburg ist sie nicht gekommen. Sie wird davon erfahren, ohne alles erneut erleben zu müssen.
Ulf M. sitzt in schwarzer Kapuzenjacke im Gerichtssaal und lässt seine Anwältin sprechen. Immer wieder betont sie, er habe sich von seinem rechten Gedankengut distanziert. Einmal beugt der 48-Jährige selbst den Kopf zum Mikrofon und sagt, dass es ihm leidtue. Die Tat selbst streitet er nicht ab. Es sei eine Schnapsidee gewesen. Er habe angenommen, die Wohnung sei leer, er wollte niemanden treffen, seine Nachbarin nur erschrecken.
Das Bild, das Zeugenaussagen, Chats und Videoaufnahmen von ihm zeichnen, lässt die Staatsanwaltschaft daran zweifeln.
Was sich im Prozess nicht bestätigen lässt, ist der Lärm, den Ulf M. immer wieder beklagte. Laut Staatsanwaltschaft habe es sich wohl – abgesehen von einer Anfangsphase, in der die Wohnung renoviert wurde – um Alltagsgeräusche gehandelt.
Die Richterin spricht in ihrer Urteilsbegründung von abstoßendem und inakzeptablem Gedankengut. Seit 2019 habe eine Radikalisierung mit Gewaltfantasien stattgefunden. Nur durch Glück und Zufall sei niemand verletzt worden.
„Wo, wenn nicht zu Hause, soll man sich sicher fühlen”, sagt die Richterin bei der Urteilsverkündung im Dezember. Sie verurteilt Ulf M. zu sieben Jahren Haft. Gegen das Urteil wurde Revision eingelegt. Nun prüft der Bundesgerichtshof die Entscheidung.
Unsere Autorin war im Gerichtssaal dabei. Was vor, während und nach der Tat passierte, konnte sie so zu einem Gesamtbild zusammenfügen.
*Name geändert
lokal. unabhängig. unbestechlich.
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