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Rund 3.000 Menschen wohnen in der Lenzsiedlung. Foto: Cristina Lopez
Rund 3.000 Menschen wohnen in der Lenzsiedlung. Foto: Cristina Lopez
Magazin #28

Die Lenzsiedlung: Ein vertikales Dorf

Fast 3.000 Menschen, auf engstem Raum, mitten in der Stadt: Wie lebt es sich in Eimsbüttels größter Nachbarschaft? Ein Hausbesuch in der Lenzsiedlung.

Von Alana Tongers

In der Lenzsiedlung wird geschossen. Der Tatort ist abgesperrt, die Spurensicherung schon da, Hunde reiben ihre Nasen über den Boden. Irgendwer ist tot, irgendwer geflohen, Polizisten stürmen durchs Treppenhaus. Dann ein Cut. Die Crew packt ihr Equipment zusammen. Aus einer Wohnung tragen sie die schmutzigen Spülkästen, die sie für den Dreh installiert haben. Draußen pflanzen sie das Grünzeug wieder ein, das sie aus den Rabatten gerissen haben. Vorurteile als Requisite im Abendprogramm.

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Immer wieder parken die weißen Vans vor den Hochhäusern der Lenzsiedlung. Das Großstadtrevier hat hier schon gedreht, regelmäßig ist der Tatort da. Die Nachbarn beäugen das vom Balkon aus, während sie unten die falschen Leichen wegtragen.

Wie eine Freundin

Ralf Helling erzählt von den Drehs, wenn ihn Menschen auf den Ruf der Lenzsiedlung ansprechen. Über die Jahre hat die Siedlung viele Namen bekommen. Einige prächtig, „Queen Mary von Eimsbüttel” zum Beispiel. Die meisten aber abwertend. „Affenfels”, „Papageiensiedlung”, „Klein-Chicago”. Die Bild-Zeitung schrieb über die „berüchtigte Lenz­siedlung”, über das Ghetto, in dem es kaum mehr als Gewalt, Drogen und Perspektiv­losigkeit gibt. Das Abendblatt brachte die „Machtspiele der Lutteroth-Kings” aufs Titelblatt, eine Gang, die in der Siedlung ihr Unwesen getrieben haben soll.

Die Geschichten von den Dreharbeiten sind die wildesten, von denen Ralf Hel­ling erzählen kann. Sonst? „Alles normal”, sagt er, nippt an seinem Kaffee. Und trotzdem hört er manche über die Siedlung reden, als wäre sie ein Mons­t­rum. Ist sie nicht, weiß er nach all den Jahr­en hier. Helling ist Ge­­schäftsführer des Lenz­sied­lung e.V., der das Bürgerhaus direkt gegenüber den Hoch­häusern betreibt. Bevor er dort anfing zu arbeiten, kannte er niemanden, der hier wohnt. Die Siedlung war für ihn, wie für viele in Eimsbüttel, eine große Unbekannte. Heute ist sie wie eine Freundin.

Die Nachbarschaft in der Lenzsiedlung

Die Lenzsiedlung ist Hamburgs jüngste Hochhaus­siedlung: 1974 gebaut, als die hohen Bauten schon einen schlechten Ruf in Deutschland hatten. Die letzte ihrer Art. Ein Außenseiter aus Beton, der sich zwischen Jugendstilbauten südlich und Einfamilienhäusern nördlich in den Himmel streckt. Von außen wirkt sie wie eine Festung – mitten drin, und trotzdem abgeschottet.

Sie verschließt sich dem, der vor ihr steht. Dabei muss man nur einen der verschlungenen Wege nehmen, die von der Straße in den Hof führen. Da, in der Schlucht zwischen den gestapelten Wohnungen, öffnet sich die Nachbarschaft. Die Lenzsiedlung, wie Ralf Helling sie kennt.

„Jemand der sich kümmert“

Das Bürgerhaus, dem Helling vorsteht, prägt das Zusammenleben vor Ort. Freizeitangebote für die vielen Kinder und Jugendlichen, die Rentnerinnen und Erwachsenen in der Lenzsiedlung hat es auch schon vor dessen Eröffnung 2010 gegeben. Aber das Bürgerhaus hat das Angebot deutlich erweitert. Es gibt einen Computerraum, in dem Kurse für Seniorinnen und Senioren angeboten werden, denen das Internet noch fremd ist. Ein Café, in dem sich alte Freundinnen und neue Freunde treffen. Und Beratungsangebote, für Schwangere und zum Thema Asylrecht. Tanzkurse, gemeinsame Ausflüge. Für das alles wurde die Siedlung vielfach ausgezeichnet – die Liste mit den Preisen macht den Großteil des Wikipedia-Artikels der Lenzsiedlung aus.

Damit die Nachbarschaft so lebendig bleibt, wie sie ist, versuchen Helling und sein Team, die Bewohnerinnen und Bewohner der Lenzsiedlung so oft es geht in die Planung des Angebots mit einzubeziehen. Er freut sich, wenn sich die Nachbarschaft zusammentut, Menschen Ideen haben und Lust, Projekte umzusetzen. Er ist dann der derjenige, der versucht, die Mittel dafür zu beschaffen. „Es ist wichtig, dass jemand vor Ort ist. Jemand, der sich kümmert”, meint Helling.

Nebenan

Klaus sitzt vor dem Kiosk, einen Coffee-to-go-Becher vor sich. Er wohnt seit fünf Jahren in der Seniorenwohnanlage neben der Lenzsiedlung. Fast jeden Tag ist er hier, vor dem Kiosk, für den Kaffee im Pappbecher, der gut ist, aber nicht zu teuer. Vor allem aber für den Klönschnack. Hier kriegt er mit, was in der Nachbarschaft passiert. Von seinem Freund, der auch Klaus heißt, mit dem er manchmal Shanties singt. Vom Kioskbesitzer Esmer. Von den jungen Familien und ihren Kindern, die in der Gegend wohnen. Am Anfang, sagt Klauser, sei er skeptisch gewesen. In der Lenzsiedlung wohnen rund 3.000 Menschen. Über 70 Prozent von ihnen kommen aus eingewanderten Familien, ihre Geschichten führen in über 60 Nationen. Im Eimsbütteler Durchschnitt sind es nur 23 Prozent.

Klaus wohnt seit fünf Jahren in der Seniorenwohnanlage neben der Lenzsiedlung. Foto: Alana Tongers
Klaus wohnt seit fünf Jahren in der Seniorenwohnanlage neben der Lenzsiedlung. Foto: Alana Tongers

So viele Menschen auf so engem Raum, aus so vielen Ländern – kann das funktionieren? „Ich kann selbst gar nicht glauben, wie gut es funktioniert”, sagt er. Hier kämen alle miteinander aus. Wie zum Beweis grüßt er jede und jeden, die zum Kiosk kommen, um Zigaretten zu kaufen, oder Tabak, oder eine Cola. „Fast wie ein kleines Dorf.” Es sei für die Nachbarschaft wichtig, dass es Treffpunkte gäbe. Wie den Kiosk oder das Bürgerhaus, wo man zusammenkommen kann. Klar, Probleme seien da immer. „Viel Geld hat hier wohl niemand.” Einmal, erzählt Klaus, habe er eine ältere Frau vor Aldi gesehen, die jeden die Artikel auf ihrem Einkaufszettel akurat zusammengerechnet hat. Das hat ihn traurig gemacht.

Der Kiosk für die Lenzsiedlung

Esmer, der den Kiosk betreibt, gehe nur zum Schlafen nach Hause, fast den ganzen Tag arbeitet er in dem kleinen Laden. 365 Tage im Jahr geöffnet, steht auf dem Schild über dem Fenster. „Wenn ich mal im Bingo gewinne”, sagt Klaus, „dann machen wir eine Weltreise zusammen. Kiosk zu und los.” Umso wichtiger, dass es hier, in der Lenzsiedlung, noch bezahlbaren Wohnraum gibt. Er kenne niemanden aus der Lenzsiedlung, der sich über das Leben dort beschweren würde. „Und von oben”, er zeigt auf die Hochhäuser der Siedlung, „sieht man sogar den Hafen.”

Ein junger Mann und sein Sohn kommen zum Kiosk, der Mann legt Geld auf die Ladenfläche. „Sorry, ich hab’s gestern nicht mehr geschafft, das vorbeizubringen.” Esmer winkt ab, kein Problem. Und Klaus nickt, als wolle er sagen: Ja, genau so ist das hier.

Im Hof

Geschirrklappern dringt aus gekippten Fenstern. Ein winziger Hund sitzt in einem Fahrradkorb, eine Katze starrt vom Balkon. Ein Mann fischt eine Red-Bull-Dose aus dem Mülleimer. Zwei Arbeiter hieven Möbel aus einem Transporter, irgendwer zieht ein. Zwei Kinder spielen im Hof, ihr Lachen prallt an den Wänden ab. Zwei Mädchen schließen die Haustür auf, eine H&M-Tüte in der Hand.

Erdgeschoss

Florian steht im Türrahmen. Weißes Unterhemd, durchtrainierte Oberarme. Hier sei noch nie etwas eskaliert, zumindest nicht seit er hier lebt, erzählt er. Manchmal ein lautes Motorrad vielleicht, ein bellender Hund. Aber mehr? Er schüttelt den Kopf. Mehr nicht. Seit 1998 wohnt er mit seiner Mutter im Erdgeschoss. Seit seiner Geburt. Er ist 23 Jahre alt, will langsam ausziehen. Eine Wohnung habe er schon gefunden, wenn alles gut geht, ist er bald weg. Aber nicht weit. „In der Nachbarschaft”, schiebt er schnell hinterher. „Hier sind halt meine Wurzeln, deswegen will ich in der Nähe bleiben.”

Sechster Stock

Isabel Hassan schiebt ihre große Sonnenbrille höher. Es ist heiß draußen, das Licht grell. Isabel, die viele nur Isi nennen, wohnt seit 30 Jahren in der Lenzsiedlung, fast ihr ganzes Leben. Hergezogen ist sie mit ihrer Mutter und ihren zwei Brüdern, da war sie gerade zehn Jahre alt. Wie ein kleines Abenteuer erinnert sie das. Gegenüber der Spielplatz, die Wohnung im 11. Stock, dem Himmel ganz nah, über allen anderen Dächern in Hamburg. Mittlerweile lebt sie mit ihrem Sohn und ihrem Mann in einer eigenen Wohnung, im sechsten Stock.

Sie kann sich noch an Zeiten erinnern, als ihr Gegenüber erstmal schlucken musste, wenn sie erzählte, dass sie in der Lenzsiedlung wohnt. Als sich Außenstehende nicht trauten, durch den Hof zu gehen, Angst hatten. „Es sah halt mehr aus wie ein Ghetto”, sagt sie schnell, zuckt mit den Schultern, zieht an ihrer Zigarette. Runtergekommen, die Häuser schmutzig, die Jugendlichen machten alles kaputt, randalierten, dealten Drogen – nur einige der Vorurteile. Diese Angst sei jetzt weg. In der Siedlung habe sich seit ihrem Einzug in den 90er-Jahren viel getan. Die Häuser, die Wohnungen wurden renoviert. Wo in ihrer Kindheit nur eine Sandkiste war, sind jetzt kleine Spielplätze. An einer Wand entsteht das große Wandbild. Vor allem aber gibt es das Bürgerhaus.

Lenzsiedlung: „Jeder kennt jeden“

Zwischenzeitlich hat Isabel auch mal in Bönningstedt gewohnt. Aber nicht lange. War ihr zu öde. Ihre Kinder ließ sie damals im Kindergarten nahe der Siedlung, die Nachmittage verbrachte sie bei ihren Freundinnen auf der Terrasse. So lange, bis ihr Mann sie abholte, oder sie den Bus zurück nach Schleswig-Holstein nehmen musste. Sie zog zurück nach Eimsbüttel, in die Julius-Vosseler-Straße, aber auch das war noch zu weit weg. Es musste wieder die Lenzsiedlung sein. Seitdem ist sie geblieben. Vor allem wegen der Menschen hier. Viele kennt sie noch aus Kindertagen. Nun haben sie selbst Kinder, sie spielen auf dem Spielplatz, während die Erwachsenen Kaffee trinken. Wie es ihre eigenen Eltern Jahrzehnte vor ihnen getan haben.

Einmal erkrankte eine Nachbarin schwer. Isabel betreute ihre Kinder, während sie im Krankenhaus lag. Gute Nachbarschaft definiert sich für Isabel hier, zwischen dem ersten und fünfzehnten Stockwerk, auf den Spielplätzen gegenüber, den Parkbänken in der Hochhausschlucht. „Jeder kennt jeden, man kommuniziert miteinander, man hilft sich. Alle sind füreinander da”, meint sie. Bevor sie einkaufen geht, fragt sie gegenüber, ob noch jemand was braucht. Wenn Isabel über ihre Nachbarn in der Lenzsiedlung redet, klingt es eher, als meine sie Familie. „Ich wohne hier nicht nur. Ich lebe hier auch.”

Neunter Stock

Marianne Roos sitzt auf ihrem Sofa im 9. Stock der Lenzsiedlung, 16 Uhr, der Fernseher läuft. Auf dem Bildschirm stürzen sich Schwimmer ins Becken. „Ich mag Leichtathletik”, sagt Roos. Auf dem Wohnzimmertisch ein Aschenbecher, daneben ein Glas Weißwein. Ihre Augen mit blauem Kajal umrandet, das Kleid türkis. „Wie lange ich hier wohne…” Sie überlegt. „Willst du das wirklich wissen?” Roos lacht. „36 Jahre”, sagt sie schließlich. 1986 ziehen sie und ihr Mann ein, mit einem Berechtigungsschein, für mehr habe ihr Einkommen nicht gereicht. „Wir mögen es hier, wir haben so einen schönen Ausblick.” Drinnen sei es viel schöner, als die Hochhäuser von außen vermuten lassen. Ihr Blick schweift nach draußen. Auf dem Balkon zwei Stühle, ein pinker Plastiktisch, bunte Blumen strecken sich dem grauen Himmel entgegen. „Traumhaft.” Sie lächelt. „Ich hoffe, dass wir hier für immer bleiben können.”

Viele Menschen in der Lenzsiedlung kennen sich seit Jahren. Ganze Generationen teilen eine gemeinsame Geschichte in den grauen Bauten. Die, die neu dazukommen, haben viele Möglichkeiten, Anschluss zu finden. Im Café, am Kiosk, bei einer der etlichen Veranstaltungen, die der Verein anbietet. Neue Nachbarn lernt sie spätestens im Fahrstuhl kennen, meint Isabel. „Den müssen wir schließlich alle benutzen.”

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