Die „obsolete Stadt“: Über Stellingens Zukunft
Ein Forschungsprojekt hat am Beispiel Stellingen untersucht, wie Städte auf zukünftige Entwicklungen in Verkehr, Arbeitswelt oder Kultur reagieren könnten. Was dabei herausgekommen ist.
Von Christiane TauerWas wäre, wenn die Verkehrswende eines Tages wahr wird und in einer Großstadt wie Hamburg kaum noch Autos fahren? Was, wenn die Digitalisierung die Arbeitswelt so verändert, dass Gewerbeflächen überflüssig werden? Und was ist mit den Friedhöfen in der Stadt – könnten sie überflüssig werden, weil sich Religiosität und Bestattungskultur verändert haben?
Kurz gesagt: Was könnte weg und wie könnten die freigewordenen Potenziale genutzt werden? Zum Beispiel für bezahlbaren Wohnraum, neue Infrastruktur oder gemeinwohlorientierte Projekte?
Stellingen als Potenzialraum
„Obsolete Stadt“ heißt ein Forschungsprojekt unter der Leitung des Fachgebiets Städtebau der Universität Kassel, das sich mit diesem Thema beschäftigt hat. Drei Jahre lang hat das Forschungsteam die Potenziale sogenannter urbaner Obsoleszenzen untersucht, um konkret anwendbare Instrumente zur Stadtplanung zu entwickeln.
Eimsbüttels Stadtteil Stellingen diente ihnen dafür als beispielhafter „Potenzialraum“.
Stellingen: 75 urbane Obsolenszenzen
Allein 75 perspektivische Obsoleszenzen – also in einigen Jahren oder Jahrzehnten überflüssige Objekte und Grundstücke – haben sie in Stellingen identifiziert. Darunter etwa die Shell-Tankstelle und die Autohäuser an der Volksparkstraße, der dortige Netto-Markt oder die evangelische Kirche und der Friedhof an der Molkenbuhrstraße. In mehreren Werkstätten haben lokale Akteure zusammen mit externen Experten Szenarien entwickelt und daraus am Ende ein Leitbild skizziert.
Ihre Vision: Stellingen könnte sich als Hamburgs „Stadteingang Nord“ positionieren. Kraftzentrum wäre die Neue Mitte Stellingen, die Volksparkstraße würde sie mit dem S-Bahnhof Stellingen verbinden. Um diese Verbindungsstraße so bürgerfreundlich wie möglich zu gestalten, sollte sie verkehrsberuhigt werden. Der Durchgangsverkehr würde nördlich um das Gewerbegebiet fließen. Das grüne Herz des Viertels wäre das für alle nutzbare Areal des heutigen Friedhofs, auf ihm wäre auch Bebauung möglich.
Was die Kieler Straße angeht, sind sich die Forscherinnen und Forscher einig, dass sie nie ein Ort hoher Aufenthaltsqualität werden wird. Trotzdem wollen sie auch eine andere Nutzung nicht ausschließen.
Zwei Szenarien für Stellingen
In einem Planspiel entwickelten sie zwei unterschiedliche Szenarien.
Szenario 1: Die Kieler Straße bleibt als übergeordnete Verkehrsachse erhalten, allerdings mit nur zwei statt drei Spuren je Fahrtrichtung. Auf den Innenhöfen der Bestandsgebäude entsteht neuer Wohnraum, Parkplätze und Vorgärten werden zu Klima-Ausgleichsflächen.
Szenario 2: Die Kieler Straße wird deutlich verändert, hin zu einer Straße mit Aufenthaltsqualität und entschleunigter Mobilität. Stellenweise soll es nur noch eine Fahrspur je Richtung geben, dazu begrünte Querungen, öffentliche Plätze und kleinteilige Nahversorgung. Nicht mehr benötigte Gebäude werden zurückgebaut, in zweiter Reihe entstehen begrünte Wohnhöfe.
Betroffene Viertel sind keine Problemquartiere
Ob diese Vision eines Tages wahr werden wird? Das Forschungsteam macht in der Zusammenfassung seiner Studie Mut, die Viertel einer Stadt, in der viele Bestandsgebäude in Zukunft überflüssig sein werden, nicht als Problemquartiere zu sehen.
Vielmehr seien es Potenzialräume, in denen eine „gemeinwohlorientierte, klimagerechte Transformation prototypisch vorangetrieben werden kann“.
Mehr zu der Studie, deren Ergebnisse im Frühjahr 2023 präsentiert wurden, unter obsolete-stadt.net