Unter einem Dach
670 Quadratmeter, vier Generationen: Im Stellinger Brehmweg 48 wollen sie miteinander statt nebeneinander wohnen. Weil sie mehr Platz brauchen oder zu viel davon haben. Weil sie lieber zusammen als alleine sind. Über offene Türen und einheitliche Fliesen.
Von Julia HaasFür einen Moment vergisst Martin Brüdigam, dass die Tür nicht ins Schloss fallen wird. Beim Betreten seiner Wohnung schubst er sie in Richtung Rahmen. Beiläufig wie das Schuhe ausziehen. Ohne Erfolg. Ein dickes Seemannstau, das die Türklinken von innen und außen verbindet, hindert die Tür am Zufallen. „Ah”, erinnert sich der 36-jährige Familienvater. Die Türen bleiben offen.
Im Brehmweg 48 in Stellingen leben vier Generationen, 18 Bewohner zwischen vier und 88 Jahren. Sechs Kinder, zwölf Erwachsene, verteilt auf drei Stockwerke und acht Wohnungen. Einige von ihnen sind verwandt, andere seit den 70ern befreundet. Manche haben sich über ein Bewerbungsverfahren kennengelernt. Alle haben sich entschieden, miteinander statt nebeneinander zu wohnen. Dafür haben sie ein Haus gebaut und eine Gemeinschaft geschaffen.
Zu klein, zu groß, zusammen
Martin Brüdigam lebt mit seiner vierköpfigen Familie seit August 2021 im Brehmweg. Kurz nach Fertigstellung des Neubaus sind sie eingezogen – zweiter Stock, linke Tür, mit Blick zur Straße. Auf knapp 100 Quadratmetern haben sie in der Maisonette-Wohnung Platz für zwei Kinderzimmer, einen offenen Wohn- und Essbereich mit einer Fensterfront zur Gemeinschaftsterrasse. Ihre alte Wohnung mit 56 Quadratmetern in Ottensen war zu klein geworden.
Bettina Mutschler war das Einfamilienhaus im Brehmweg zu groß geworden. Mehrere Jahrzehnte hat sie dort mit ihrer Familie gelebt, hat gerne im Garten in der Sonne gesessen. Jetzt sind die Kinder aus dem Haus, ihr Mann verstorben. „Was nützt die Morgensonne im Garten, wenn ich alleine hier bin?” Die 73-Jährige entscheidet sich, das alte Haus aufzugeben, um auf demselben Grundstück einen größeren Holzbau mit Flachdach, drei Stockwerken und Kellerräumen zu bauen. Nicht alleine, sondern mit Brüdigams Familie, einer alten Freundin, deren Mutter, Kindern, Enkeln und anderen.
Was bedeutet „zusammen wohnen“?
Nicht selten bleiben Senioren in Wohnungen und Häusern zurück, die einst ganze Familien als Zuhause nutzten. Einer Umfrage der Immobilienagentur „pantera” zufolge kennen 63,8 Prozent der befragten Hamburger einen älteren Menschen, der alleine in einem Haus oder in einer Wohnung lebt, in der er zuvor mit seiner Familie oder mehreren Menschen zusammen gewohnt hat. Und: 46,9 Prozent aller Befragten zwischen 51 und 65 Jahren können sich vorstellen, im Alter in eine kleinere Wohnung zu ziehen.
Bettina Mutschler will nicht alleine bleiben. Bevor sie sich für ihre heutige Wohngemeinschaft entschieden hat, stand sie mit einer anderen Gruppe im Austausch und stellte fest: Zusammen zu wohnen bedeutet nicht für jeden, auch zusammen zu leben. „Es ging um wunderbare Wohnungen, aber nicht um eine Gemeinschaft.”
Im Brehmweg ist das anders. Das Gebäude will kein Mehrfamilienhaus sein: Es gibt Sharing-Räume mit gemeinsamen Küchenutensilien, Waschmaschinen und Trocknern. Einen Gemeinschaftsraum, an dem jeder vorbeikommt, der ins Haus geht. Im Keller eine Werkbank für die Kinder. Draußen eine große Feuerschale. Genug Flächen für Bierbänke und gemeinsame Grillabende. Wer will, lässt die Tür offen. Die Bewohner im Brehmweg wollen.
Fast kein Heimweh mehr
Martin Brüdigam empfindet das Zusammenleben als Entlastung und Zugewinn – vor allem für seine Söhne. Sich am Nachmittag zu verabreden, bedeutet nicht mehr, dass Mama oder Papa sie zu Freunden fahren müssen. Sondern sich auf dem Flur zu treffen, durch die Wohnungen zu rennen. Über 670 Quadratmeter Wohnfläche bieten endlose Möglichkeiten, die besten Verstecke, wie Uroma Erika Kindereits Badezimmer.
Seit Oktober lebt die 88-Jährige im Brehmweg Tür an Tür mit Tochter, Enkel, Urenkeln. Ihre 120 Quadratmeter große Wohnung in Winterhude hat sie für ein Drittel der Fläche aufgeben. Wehmut schwingt mit, wenn sie von ihrem alten Zuhause beim Stadtpark erzählt. Weil im Brehmweg alles unbekannt, vieles nicht fußläufig zu erreichen ist. Dennoch: Heimweh hat sie fast nicht mehr. Zu groß ist die Freude, ihre Urenkel aufwachsen zu sehen. „Das hält mich jung”, sagt die Rentnerin, die ihre weißen Haare zu einem Dutt zusammengebunden trägt. Und wenn der Trubel mal zu viel wird? Dann muss Oma ein bisschen betüddelt werden, sagen die Kinder.
Viele Wünsche, ein Haus
Nach Angaben der Behörde für Stadtentwicklung sind seit 2003 rund 110 Baugemeinschaften mit über 3.000 Wohnungen entstanden. Etwa ein Drittel bis die Hälfte davon vereinen mehrere Generationen unter einem Dach. Wahrscheinlich sind es mehr. Das Bauprojekt in Stellingen zählt nicht dazu. Die Behörde zählt nur Mehrgenerationenhäuser, die auf städtischen Grundstücken realisiert wurden. Bis zu 20 Prozent der zur Verfügung stehenden Flächen vergibt die Behörde an Baugemeinschaften. In Eimsbüttel gibt es nur wenig stadteigenen Grund. Bisher haben acht Gemeinschaften 167 Wohnungen gebaut.
Behörde für Stadtentwicklung
Die Agentur für Baugemeinschaften ist aus der Hamburger Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen heraus entstanden. Seit 2003 versteht sie sich als Anlaufstelle für gemeinschaftliche Projekte und vermittelt stadteigene Grundstücke.
Das Privatgrundstück von Bettina Mutschler ist für die Gruppe ein Glücksfall. Vom ersten Grundriss bis zur letzten Tür ist es dennoch ein langer Weg. „Am Anfang haben wir viel geknobelt”, sagt Brüdigam. Er ist Architekt, versteht es, Ideen in Gebäude zu übersetzen. Im Brehmweg gibt es viele Ideen. Knapp 70 Mal muss sich die Baugruppe treffen, bis alle Vorstellungen in ein Konzept münden. Viele Wünsche, wenig Bauraum: Die einen bevorzugen das Obergeschoss, Bettina Mutschler die Südwest-Fassade im Erdgeschoss. Da ist es sonniger, sagt sie. Am Ende sollen alle zufrieden sein.
„Die Barriere ist weg”
Dass dabei nicht immer alles flutscht, wissen die Bewohner. Wenn es hakt, unterstützt Conplan als unabhängiger Vermittler. Das Unternehmen, das nachbarschaftliche Wohnprojekte begleitet, hilft dabei, gemeinsame Nenner zu finden – zum Beispiel für den Bodenbelag im Flur: grau ohne goldene Punkte. Am Ende entstehen acht Einzelwohnungen, die individuelle Wünsche berücksichtigen, aber einem Standard folgen: Fliesen in unterschiedlichen Farben, aber vom selben Typ. Parkett mit oder ohne Astlöcher, aber in Eiche. „In dieser Phase haben wir uns richtig kennengelernt”, sagt Brüdigam. Zusammenhalt ist entstanden. Vertrauen gewachsen.
Das braucht es. Offene Türen, kein Klingeln, kein Klopfen, Nachbarn, die plötzlich in der Küche stehen. „Die Barriere ist weg”, sagt Brüdigam. Mal schnell den alten Kühlschrank runtertragen, gehe viel schneller. Statt erst einem Nachbarn oder Freund zu schreiben, geht man einfach nach nebenan, oben oder unten.
Mehrgenerationenhaus ohne Hintertür
Seit einem halben Jahr leben Martin Brüdigam, Bettina Mutschler, Erika Kindereit, ihre Familien, Freunde und neuen Bekannten
zusammen. Alltag ist eingekehrt: Manche treffen sich zum Turnen im Gemeinschaftsraum, andere teilen sich den Wocheneinkauf auf. Ihr Konzept des gemeinschaftlichen Wohnens, der offenen Türen scheint aufzugehen. Weil das alle hofften, aber niemand absehen konnte, haben die Bewohner vorab eine Absicherung installiert – eine Teilungserklärung mit gemeinsamen Werten und Regeln.
Ihr Ziel: Keiner soll das Mehrgenerationenwohnen als finanzielle Anlage ausschlachten. Falls sich jemand aus falschen Gründen ins Projekt geschmuggelt hat. Falls jemand mit Immobilienpreissteigerungen pokert. Falls jemand seine Anteile verschachern möchte, tritt ein Vorkaufsrecht für die Gruppe ein. Brüdigam: „Der Gemeinschaftsgedanke darf nicht zerstört werden.”
Tür zu oder auf?
Mit ihrem Konzept will die Baugemeinschaft um Brüdigam, Mutschler und Kindereit ein Vorbild sein. Auch wenn die Stadtentwicklungsbehörde aktuell keinen Trend zu mehr Mehrgenerationenwohnen ablesen kann, glaubt die Gruppe, dass es Älteren und Jüngeren einen Mehrwert bietet. Mit Flyern und Infoveranstaltungen wollen sie ihre Erfahrungen teilen, erklären, was es braucht, um die Türen offen zu lassen, zeigen, warum es sich lohnt.
Für einen Moment vergisst Martin Brüdigam, dass die Tür nicht ins Schloss fallen wird. Jetzt aber ist es Abend, er nimmt das Seemannstau heraus. Nachts, für Familienzeit, zum Mittagsschlaf fallen die Türen ins Schloss.
Ein Großteil der Baugruppe kennt sich über eine Elterninitiative aus den 70ern. Zu den Eltern gehören unter anderem Bettina Mutschler, Bärbel Smarz, die Tochter von Erika Kindereit, und Martin Brüdigams Schwiegermutter. Sie sind bis heute befreundet, ihre Kinder mittlerweile selbst Eltern. Mit ihren Partnern und Kindern leben sie in den drei Familienwohnungen. Eine freie Wohnung im Erdgeschoss hat die Gruppe über die Agentur für Baugemeinschaften vermittelt.
Wer mehr über das Bauprojekt erfahren möchte oder Rat für ähnliche Vorhaben sucht, kann sich per Mail (B48.2021@web.de) an die Gruppe wenden.