Guter Boden Eidelstedt
In Eidelstedt können Hobbygärtner auf dem Hof der Ramckes Ackerflächen mieten und selbst Gemüse anbauen. Wie die Saisongärten entstanden und eine Familie den Ort prägte.
Von Christian LitzChristoph Ramcke steht im Flur des Bauernhauses seiner Familie vor einem schwarz-weißen Foto an der Wand. Es zeigt vier junge Frauen, zwei junge Männer und in der Mitte sitzend den Patriarchen Johann Ramcke mit Zigarre sowie seine Frau Maria. Das Foto stammt aus dem Jahr 1900. Johann Ramcke war damals Gemeindevorsteher Eidelstedts.
Christoph Ramcke hat es auf Plakatformat vergrößert. Es ist ein wirkungsvolles Bild, und wenn er dazu Anekdoten erzählt, wird die Fotografie noch beeindruckender. Die vier Frauen, das war damals das Problem, waren alle noch nicht unter der Haube, als das Foto gemacht wurde.
Er hier, „da muss was vorgefallen sein, er wurde enterbt”, verschwand, sagt Christoph Ramcke und zeigt auf einen der Männer. Und das da ist Johann junior, der den Hof weiterführte, als der Vater, also Christoph Ramckes Ur-ur-Großvater, 1903 vom Pferd fiel und starb. „Die vier Mädels waren nicht unter der Haube.” Ur-ur-Großmutter Maria „rockte dann hier den Laden bis in die 1930er”.
Anna, die hinten rechts, war bei dem Fototermin nicht mal dabei. Sie wurde, „fun fact”, sagt Christoph Ramcke, später extra fotografiert. Der Fotograf hat sie aus dem zweiten Foto geschnitten und in das erste gelegt und nochmal alles abfotografiert. Photoshop um 1900.
Die Ramckes kamen 1802 nach Eidelstedt. Wo sie sich niederließen, ist nicht bekannt. Um 1878 bauten sie erst die Scheune, dann das Haus neben die Runkelrübenfelder in der heutigen Reichsbahnstraße. Um 1800 gab es in Eidelstedt vielleicht 400 Leute auf 20 Höfen, „Familien waren damals ja größer”, sagt Christoph Ramcke, Vater zweier Kinder.
Ein Haus voller Geschichten
In Eidelstedt hat sich viel verändert seitdem – auch das Ensemble, das die Ramckes bauten. Es wirkt dennoch alt, ist denkmalgeschützt, voller Atmosphäre. Und voller Geschichten, die Christoph Ramcke alle kennt, gerne erzählt und mit hartem, lautem, sehr lautem Lachen würzt.
Er sagt oft „fun fact” und bietet immer eine Anekdote, die perfekt in die Situation passt. Immer Bezüge aus der Vergangenheit in die Gegenwart.
Doktor Christoph Ramcke ist Sportwissenschaftler sowie Gesundheits- und Motivationscoach. Er präsentiert Botschaften, verpackt in Geschichten und Stimmungen in Hallen, Konferenzsälen, oben auf dem umgebauten alten Heuschober, vor größeren Menschengruppen. Versucht, Leute zu erreichen, ihnen gesunde Ernährung und Bewegung schmackhaft zu machen. Er selbst jedenfalls ist schlank, fast drahtig, lebhaft, frisch, gesund ernährt und sportlich.
Sein Ziel sei es, Leute dazu zu bringen, „den inneren Schweinehund” zu besiegen. „Wie komme ich in die Veränderung?” Darum gehe es ihm. Er sagt das und hält die selbst entworfene Puppe hoch, den Schweinehund, den es in groß und klein zu hunderten in dem Bauernhaus gibt. „Die Schweinehundanleiner“ ist Christoph Ramckes eingetragene Marke.
Nahe der Kieler Straße
Das Haus in den Feldern ist heute das Haus nahe der Kieler Straße in Eidelstedt und ist umgeben von anderen Häusern. Etwas näher zur Kieler Straße betrieb sein Onkel die Gaststätte Ramckes Gasthof und daneben auch den Tanzsaal, in dem bis zum Schluss der Chor probte. Später kam da das Alabama-Kino rein und irgendwann mal Matratzen Concord.
In der Scheune hat die Familie eine Zeit lang ein Café betrieben. Aber das hat sich nicht rentiert. Wenn Leute kommen, eine Tasse Kaffee trinken und vielleicht ein Stück Kuchen essen, „dann reicht das nicht”, hat Christoph Ramcke damals gelernt. Es war ein Versuch, Geld zu verdienen, der gescheitert ist.
Der Mythos vom vielen Geld
„Es gibt ja diesen Mythos, dass die Familie reich ist.” Was am Volksparkstadion liegt. Denn das steht auf Boden, der mal den Ramckes gehört hat. Allerdings: schlechter Boden, billig verkauft, um 1920 an die Stadt Altona. Da wuchs nicht mal richtig was drauf. Brachte kein Geld. Aber diesen Ruf.
Das Café jedenfalls, es hätte Geld bringen müssen und brachte keines. Aber Arbeit. Eingerichtet hatte es Christoph Ramcke, als er nach dem Studium und ein paar Jahren Arbeit als Gesundheitsfachmann bei Krankenkassen und Firmen wieder zurück auf den Heimathof kam.
Damals engagierte er eine Gastro-Coachin. Die Frau sollte der Café-Idee irgendwie Beine machen. Sie hatte eine ganz andere Idee, und heute betreibt Christoph Ramcke mit seinem Onkel Peter die Saisongärten auf den alten Äckern der Familie. Peter Ramcke sei „das wandelnde Gemüselexikon” und war früher bei der Stadt Hamburg Landschaftsgärtner.
„Herzensprojekt” nennt er die Saisongärten. 66 Parzellen waren es anfangs, die für den Sommer vermietet wurden. Heute sind es 300 Parzellen, die sich direkt am Niendorfer Gehege befinden. 20.000 Quadratmeter, die Ramcke und sein Onkel vermieten an Menschen, die in der Natur etwas anbauen wollen für sich selbst, Gemüse, Blumen. Eine Art Schrebergarten ohne Schrebergarten-Regeln.
„Wir bringen den Leuten bei, dass sie nicht gießen müssen”
Die Saisongarten-Regeln erklärt Christoph Ramcke: „Keine Chemie, nur Natur. Gedüngt wird mit Festmist, den der Tierpark Hagenbeck liefert. Der Boden ist völlig torffrei. Torf zu verwenden, das wäre ökologisch eine Sechs minus.” Die Saisongärten seien auf „hochwertigem Boden, der Wasser hält, fast wie Mulch”. Das sei hervorragend zum Pflanzen. „Hoch lebendiger Boden. Wir bringen den Leuten bei, dass sie nicht gießen müssen.”
Ökologischer gehe es kaum. Halt, doch: Die meisten Leute kommen mit dem Fahrrad zu ihren gepachteten Gärten: „Ein Drittel sind Eltern mit Kindern, ein Drittel sind Ältere hier aus der Gegend, die früher oft eigene Gärten hatten, aber nicht mehr angraben können.” Das erste bei dem Boden sei ja der Pflug. Er nimmt die Hände möglichst weit auseinander, so groß ist der Pflug, den die Ramckes einsetzen.
Ein Drittel der Leute nennt er „so Altona, sechs Leute, sie trinken Bier und denken, sie tun was Gutes, wenn sie das Pfand da lassen”. Mit denen mache es Spaß. Er lacht sein Lachen und zieht den Bogen vom Gesundheitscoach zum Saisongarten-Betreiber: „Gesundheit darf Spaß machen.”
Nur eine Generation ohne einen Johann
Auf dem Weg durchs Haus in die ehemalige Diele, ein großer Raum mit Tor nach draußen und Kopfsteinpflaster von 1878. Früher stand hier die große Waage oder die Trecker und Anhänger. Hier erzählt Christoph Ramcke, dass sein Großvater Johann der letzte Vollerwerbslandwirt der Familie war. In jeder Generation gab es bisher einen Ramcke, der Johann hieß.
Sein Vater, Johann, der im oberen Stockwerk noch eine Versicherungsmakler-Agentur hat, habe ihn „von einem Stigma befreien wollen”. „Schade”, sagt Christoph Ramcke, in jeder Generation einen Johann zu haben, das hätte ihm gefallen. Sein Sohn heißt Joshua Johann, die Familientradition hat nur eine Generation Pause gehabt.
In der Scheune hängt ein anderes schwarz-weißes Foto, großgezogen und beeindruckend: Eine wunderschöne Frau schaut Betrachtern direkt entgegen, ein Mann ist im Profil, Opa Johann Ramcke, der die Frau verliebt anschaut. Ein Hochzeitsfoto. „Raissa”, sagt Christoph Ramcke, und er erzählt die Geschichte von Raissa.
Sie stammte aus Charkiw in der Ukraine, wurde von den Nazis 1943 im Alter von 18 Jahren als Zwangsarbeiterin ins Dritte Reich deportiert. Ihre Geschichte hat Wolfgang Wallach für sein Buch „Eidelstedt unterm Hakenkreuz” recherchiert: Wilhelm Ramcke, also Christoph Ramckes Ur-Großvater, kaufte Raissa für 17 Reichsmark in Neumünster in einem Lager am Bahnhof.
Landwirte suchten dort meist Zwangsarbeiterinnen, die melken konnten. Wilhelm Ramcke sei „ein Ästhet” gewesen und habe nach Schönheit entschieden, zitiert Wolfgang Wallach Peter Ramcke, einen der Söhne Wilhelms. Raissa konnte nicht melken. Sie und ein anderer Zwangsarbeiter aßen mit der Familie am Tisch bei jeder Mahlzeit und mussten keine Häftlingskleidung tragen. Das war damals eine große Ausnahme.
Raissa hatte vergleichsweise Glück gehabt. Damals gab es tausende ukrainische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Eidelstedt, in chemischen Fabriken, Drahtfabriken, Blei- und Maschinenwerken. Die waren nicht weit von hier. Christoph Ramcke deutet in Richtung Westen, einfach die Straße runter, dorthin wo heute das Edelfettwerk und die Tivoli-Mälzerei sind. Raissa aber kam zu den Ramckes auf den Hof.
„Das ist mein Enkel”
In der Ukraine hatte Raissa die große Hungersnot Stalins überlebt. Sie überlebte auch die ersten alliierten Bombenangriffe 1943 auf Hamburg, die den Hof in Eidelstedt nahe der Fabriken trafen, ihn teilweise zerstörten. Als um Weihnachten Johann Wilhelm Ramcke, also Christoph Ramckes Großvater, den die Wehrmacht eingezogen hatte, auf Heimaturlaub kam, verliebten sich die beiden. Raissa und Johann Wilhelm. Als er wieder an der Front war, stellte sich heraus: Raissa ist schwanger.
Was in Nazi-Deutschland Sanktionen zur Folge hatte. Aber Ur-Großvater Wilhelm Ramcke sagte allen: „Das ist mein Enkel”, und setzte sich im Ort durch. Nichts passierte. Als Johann Wilhelm aus dem Krieg heimkam, war er Vater eines einjährigen Jungen, Robert. Raissa und Johann Wilhelm Ramcke heirateten. Nur einmal fuhr sie zurück nach Charkiw, die Familie besuchen. Christoph Ramcke sagt heute: „Ich bin Viertelukrainer.”
Er lacht sein besonderes Lachen und geht weiter in die Küche mit dem tiefen, uralten Kochofen aus Stein und Metall mit schwarzen Eisenringen. „Hier hat meine Oma Raissa jeden Tag gekocht, jeden Tag, bis 2007.”