
Für gelungene Integration: Zurück nach vorne
Die Flüchtlingshilfe Harvestehude zeigt, wie Integration in der Nachbarschaft funktioniert. In aktuellen Migrationsdebatten finden solche Erfolgsgeschichten wenig Beachtung. Ein Fehler, findet Simone Zander.
Von Julia HaasSimone Zander arbeitet seit August 2022 als Geschäftsführerin der Flüchtlingshilfe Harvestehude. Wir haben mit ihr über die aktuelle Migrationsdebatte gesprochen.
Vor den Wahlen nahm Migration viel Raum in den öffentlichen politischen Debatten ein. Wie haben Sie das wahrgenommen?
Simone Zander: Mich hat erschreckt, dass es nur noch um Zahlen ging – nicht mehr um die Menschen dahinter. Sie wurden komplett anonymisiert. Es ärgert mich, wie in der Gesellschaft, aber auch in demokratischen Parteien inzwischen über Migration gesprochen wird – und welches Vokabular dabei verwendet wird.
Kommt oft zu kurz: „Wir wuppen viel“
Das wäre vor zehn Jahren undenkbar gewesen. Von „Wir schaffen das” sind wir zu einer Kriminalisierung ganzer Gruppen gekommen. Es geht nur noch um die „Migrationskrise“, eine „Asylbewerberflut“. Man bekommt den Eindruck, jeden Tag würden Geflüchtete in Massen unkontrolliert ins Land kommen. Das stimmt so nicht. Die Zahl der Asylsuchenden ist übrigens seit Monaten rückläufig.
Das großartige gesellschaftliche Engagement in diesem Bereich kommt in den Debatten nicht vor. Wir wuppen viel – seien es die engagierten Mitarbeitenden im Jobcenter, Sprachlehrer oder Ehrenamtliche. Sie wurden ignoriert.
Ist das Engagement in der Krise?
Befindet sich das Engagement in der Geflüchtetenhilfe denn auch in einer Krise?
Im Gegenteil. Ich habe das Gefühl, viele, die neu dazukommen, entscheiden sich sehr bewusst für das Ehrenamt, weil sie sich in Zeiten der Polarisierung positionieren wollen. Wir verzeichnen keine Vereinsaustritte, und die Spendenbereitschaft von privaten Personen ist weiterhin groß.
Diesen negativen gesellschaftlichen Diskurs spüren wir in unserer Arbeit nicht. Aber wir merken, dass er eine Auswirkung auf Geflüchtete hat. Viele sorgen sich um ihre Zukunft und fühlen sich nicht mehr willkommen.
„Jeder ist eingeladen“
Was setzen Sie dem entgegen?
Wir schaffen in der Nachbarschaft Orte der Begegnung. Einmal im Monat veranstalten wir das „Grindel singt”. Am Platz am Brunnen versammeln sich Nachbarn, um gemeinsam zu singen. Alle zwei Wochen laden wir am Sonntagnachmittag zur „Tea Time” ein. Jeder ist eingeladen, um gemeinsam Zeit zu verbringen und Spaß zu haben. Außerdem organisieren wir Straßenfeste und sind mit anderen Vereinen vernetzt. So platzieren wir das Thema „Integration” im ganzen Viertel.
Über die Entstehung
Die Geschichte der Flüchtlingshilfe ist eng mit der Geflüchtetenunterkunft in der Sophienterrasse in Harvestehude verbunden. Als diese entstand, schlossen sich mehrere Nachbarn zusammen, um die Bewohnerinnen und Bewohner zu unterstützen. 2014 gründete sich der Verein „Flüchtlingshilfe Harvestehude”.
Doch die Unterkunft traf nicht nur auf Zuspruch. Noch bevor die ersten Bewohner eingezogen waren, klagten Nachbarn gegen die Einrichtung. Die Stadt Hamburg und die Kläger einigten sich damals außergerichtlich auf eine befristete Nutzung. Diese läuft im Sommer 2025 aus, wie die Sozialbehörde im April bekanntgab.
Während sich der Verein zunächst auf die Unterstützung der Bewohnerinnen und Bewohner der Sophienterrasse fokussiert hat, ist er mittlerweile hamburgweit aktiv.
Nachbarschaften profitieren
Zuletzt soll es Gespräche gegeben haben, die Unterkunft in der Sophienterrasse zu verlängern. Jetzt steht das Aus bevor. Wie beurteilen Sie das?
Dass Hamburg eine so zentrale Unterkunft verliert, ist ein Armutszeugnis. Denn wir haben hier gezeigt, wie gut es klappt, wenn eine Geflüchtetenunterkunft in einer funktionierenden Nachbarschaft ihr Zuhause findet. Die Unterkunft war eine Erfolgsgeschichte. Viele Kinder gehen hier zur Schule, die Familien sind vernetzt, Nachbarn haben sich ehrenamtlich eingebracht und unterstützt.
Es ist wichtig zu betonen, dass viele Anwohnerinnen und Anwohner für eine Verlängerung waren. Viele haben Freundschaften aufgebaut, einander unterstützt und voneinander gelernt.
In der Öffentlichkeit fehlt häufig das Wissen darüber, wie sehr eine Nachbarschaft von solchen Unterkünften profitieren kann. Viele Ehrenamtliche spiegeln uns das wider: Sie lernen viel über andere Kulturen, aber auch über ihr eigenes Land – und zwar durch die Brille der Geflüchteten. Viele lernen das scheinbar Selbstverständliche wieder zu schätzen – dass hier Meinungsfreiheit herrscht, dass wir in einer Demokratie leben, dass unsere Kinder zur Schule gehen können, dass wir in Sicherheit leben. Das ist übrigens auch der Grund, warum viele Menschen nach Deutschland kommen: Sie wünschen sich eine sichere und friedliche Zukunft für ihre Familien.
Simone Zander: „Oft werden die wenigen wahrgenommen, die laut pöbeln“
Bis vor Kurzem sah es so aus, als könnte in der Bismarckstraße eine Unterkunft für unbegleitete minderjährige Geflüchtete entstehen. Jetzt liegt das Vorhaben auf Eis. Zentrale Unterkünfte scheinen es nach wie vor schwer zu haben.
Das wäre ein guter zentraler Standort gewesen, und ich bin mir sicher, viele Nachbarn hätten sich eingebracht, auch wir als Verein hätten unterstützt.
Es ist schwierig, passende Flächen und Gebäude zu finden. Die Behörden kostet das viel Kraft und Energie. Die Lösung darf aber nicht sein, dass wir die Geflüchteten an den Rand der Stadt drängen. Es macht etwas mit den Menschen, ob sie an einem grauen, verlassenen Ort oder im Herzen der Stadt leben. Deswegen sind wir so stolz, mit unserem Verein mitten im Viertel zu sitzen und zu zeigen, wie es funktionieren kann.
Oft werden die wenigen wahrgenommen, die laut pöbeln – und nicht die, die die Willkommenskultur zelebrieren. Das muss sich ändern.
Zwei Bücher geben Raum
Der Verein hat inzwischen zwei Bücher veröffentlicht und gibt Geflüchteten darin eine Plattform, zu Wort zu kommen. Wie kam es dazu?
Der Autor der Bücher ist langjähriger Sprachlehrer unseres Vereins und als Ehrenamtlicher bei den Geflüchteten sehr beliebt. Er hatte gemeinsam mit dem Vorstand die Idee zum Buch. Das Buch ist ein Zeichen, sich die Diskussion nicht nur von außen diktieren zu lassen, sondern die Geflüchteten, aber auch Ehrenamtlichen selbst zu Wort kommen zu lassen – auf Augenhöhe.
Unser Autor geht mit den Büchern in Schulen und nimmt die Texte zum Anlass, mit den Schülerinnen und Schülern ins Gespräch zu kommen. In der Regel sind Geflüchtete dabei, die in den Schulen für Fragen zur Verfügung stehen. Das funktioniert super, weil es kein Frontalunterricht ist, sondern ein Austausch entsteht.
Wie kam die Buchidee bei den Geflüchteten an?
Es gab mehr Beiträge, als am Ende veröffentlicht werden konnten. Die Bereitschaft, sich daran zu beteiligen, war sehr groß. Es war zu spüren, dass es vielen Geflüchteten und Ehrenamtlichen ein Anliegen war, über ihre Erfahrungen zu sprechen.
Über die Bücher des Vereins
Die Flüchtlingshilfe Harvestehude hat zwei Bücher veröffentlicht: Yalla und Yalla II. Während im ersten Buch Geflüchtete von Erlebnissen aus ihrer Heimat oder von der Flucht berichten, sprechen sie im zweiten Buch über Werte wie Freiheit, Sicherheit und Familie. Es geht unter anderem um die Fragen, wie geflüchtete Menschen ihre neue Heimat in Deutschland erleben und was passiert, wenn verschiedene Wertvorstellungen aufeinander treffen.
Menschen empowern
Was braucht es, um Menschen langfristig zu integrieren?
Wir unterstützen Geflüchtete dabei, die Sprache zu lernen, aber auch bei der Ausbildungs- und Jobsuche. Es ist wichtig, sie zu empowern, damit sie ein selbstständiges Leben führen können.
Wie sieht das aus?
Im Bereich der Jobsuche ermutigen wir zum Beispiel, selbst zum Telefon zu greifen. Wir sprechen darüber, was sie erwartet, und schreiben hilfreiche Sätze gemeinsam auf, das Telefonat führen sie aber selbst.
Es ist wichtig, Zeit zu geben
Manchmal scheitert die Arbeitssuche daran, dass Abschlüsse nicht anerkannt werden. Muss sich der Arbeitsmarkt für Geflüchtete mehr öffnen?
Klar, wir müssen den Arbeitsmarkt öffnen. Aber wir können nicht davon ausgehen, dass die Menschen hier ankommen und zehn Tage später in einem Job arbeiten. Viele müssen zunächst die Sprache lernen, andere müssen ihre Traumata überwinden. Alle müssen sich in unser System einfinden. Stellen wir uns vor, wir wären plötzlich in Afghanistan, natürlich bräuchten wir Zeit, uns zurechtzufinden.
Zander: Brauchen mehr Therapieplätze
Stichwort Traumata – bietet der Verein Unterstützung?
Das können wir nicht leisten, aber wir machen Verweisberatung. Und wir bilden uns weiter, zum Beispiel, um Traumata zu erkennen. Das ist häufig nicht einfach.
Wir brauchen grundsätzlich mehr Therapieplätze, denn aktuell sind die Wartelisten – nicht nur für Geflüchtete – viel zu lang. Psychisch kranke Menschen brauchen Hilfe.
Wir müssen uns als Gesellschaft fragen: Wie verhindern wir, dass psychisch kranke Menschen die Kontrolle verlieren und Straftaten begehen? Darauf gibt es nur eine richtige Antwort: Therapieplätze. Stattdessen bestrafen wir ganze Nationalitäten, nur weil sie zufällig den falschen Ausweis haben.
lokal. unabhängig. unbestechlich.
Eimsbüttel+

Mit Eimsbüttel+ hast du Zugriff auf alle Plus-Inhalte der Eimsbütteler Nachrichten. Zudem erhältst du exklusive Angebote, Deals und Rabatte von unseren Partnern.