Stellinger Weg: Neue Mitte Eimsbüttel
„Die neue Schanze”, „Eimsbüttels Steindamm”, „mehr Berlin als Hamburg”: Der Stellinger Weg wandelt sich und trägt viele neue Namen. Besuch in einer Straße, die den Stadtteil zusammenbringt – und spaltet.
Von Alana TongersVormittags
Der Morgen ist lange vorbei, und trotzdem wirkt der Stellinger Weg, als habe er noch nicht ausgeschlafen. Er räkelt sich, streckt sich, wird nur langsam wach. Vor dem Restaurant rücken sie erste Stühle, fegen Blätter vom Asphalt. Vor dem Kiosk eine ältere Dame im Rollstuhl. Kaffee aus dem Pappbecher, eine Schachtel Zigaretten daneben. Die Straße klingt nach leisem Wind und verlaufenen Gesprächen. So viele Fahrräder wie Autos unterwegs. Das ist Ruhe in Eimsbüttel. Schwer vorstellbar, dass es hier irgendwann mal anders ist.
„Vor 12 Uhr ist nicht viel los”, meint Sam Wright. Sie sitzt auf einer Bank vor ihrem Vintage-Laden an der Ecke zur Schopstraße. Fabulously Old Things öffnet sie deshalb erst später. Anders lohnt es sich kaum. Die 48-jährige Britin verkauft hier seit letztem Jahr Secondhand-Kleidung. In Eimsbüttel wohnt sie mit ihren Kindern schon länger – im Stellinger Weg ist sie neu. Und ist froh, hier zu sein.
„Der Vibe ist – wie sagt man – released”, erzählt sie. Alles fließt, läuft entspannt in seinen Bahnen. Die Straße lässt sich nicht hetzen und nimmt sich Zeit zum Reden. „Wie geht es den Kleinen?”, fragt eine Frau mit Gehwagen die junge Friseurin vor dem Salon. Ein älterer Herr winkt zwei Straßenreinigern.
»Die Osterstraße ist Hamburg. Der Stellinger Weg ist Berlin«
Die Nachbarschaft ist eine, die dem Wort gerecht wird. Sie ist die geschlossene Freundesgruppe, zu der man unbedingt gehören möchte. „Ich weiß alles, was hier passiert”, lacht Sam. Neuigkeiten verbreiten sich im Stellinger Weg von Haustür zu Ladentür zur Straßenecke in Eimsbütteler Schnack. Man hilft sich untereinander: Das Restaurant nebenan verschickt für Sam Flyer.
Ihre Stammkundinnen sind zum Großteil Nachbarinnen und Freundinnen aus der Umgebung. „Die sind mein bread and butter”, sagt sie. Haben sie durch die Corona-Schließungen getragen. Der Stellinger Weg sei individueller als der Rest Eimsbüttels. Die Menschen geben sich wie sie wollen, tragen, was sie wollen. Weniger skandinavisch cleane Mode, mehr „Who cares?”. Sam hat französische Nachbarn, im Haus gegenüber wohnt eine Freundin aus New York, auf der anderen Straßenseite liegt das albanische Arian’s Pub. „Die Osterstraße ist Hamburg. Der Stellinger Weg ist Berlin”, sagt sie.
Im Stellinger Weg stehen sich mehr als zwei Straßenseiten gegenüber. Da reiht sich Altbau an roten Klinker. Jugendliche trinken Vodka-Energy vor dem Kiosk, junge Paare Gin Basil Smash auf der Terrasse. Es gibt verlebte Raucherkneipen und Poké-Bowl-Läden. Vor allem aber: viel Neues neben „seit immer schon”.
Es sind diese Veränderungen, die den Stellinger Weg spalten. Erst kamen neue Restaurants und Bars, dann folgte das Leben. Aber nicht das beschauliche, das die Straße bis dahin kannte. Sondern das trunkene, das sich in der Nacht lautstark bemerkbar macht und die Gegend verkatert zurücklässt. Viele Menschen freut es, dass hier mehr los ist. Dass der Stellinger Weg ein eigenes Publikum hat, nicht mehr länger nur das Hinterzimmer der Osterstraße ist.
Andere vermissen die alte Identität der Straße. „Klar verändert der Stellinger Weg sich”, sagt ein älterer Herr. „Nur nicht zum Guten, denn der Fischladen ist zu.” Der Fischladen Schlüter, der hier 81 Jahre war. Die Metzgerei neben dem La Paz. Selbst der alte Subway im heutigen Caffé Toraldo steht mittlerweile für einen Stellinger Weg, den es so nicht mehr gibt.
Das Tauschhaus an der Kreuzung zwischen Stellinger Weg und Schopstraße ist in den letzten Jahren ein Treffpunkt geworden. Längst nicht mehr nur zum Tauschen von Gebrauchtem, sondern auch zum nachbarschaftlichen Zusammenkommen bei einem Feierabendbier. Es ist ein heißer Julitag, die Mittagssonne beginnt zu brennen. Vor dem Tauschhaus sonnen sich Menschen auf den Bänken, einer liegt auf dem Lüftungsschacht der U-Bahn.
Das Café Eims nebenan ist noch leer. Der junge Besitzer steht davor. „Noch ist es hier ruhig”, sagt er. „Aber abends sind die Straßen voll.” Er hat im letzten Jahr eröffnet – die Pandemie habe ihm viele Verluste beschert. Gerade erst hat er sein Konzept umgestellt: Statt Brötchen will er bald abends Cocktails und Wein anbieten. Das geht im Stellinger Weg besser als Kaffee.
Nachmittags
Bei Rindchen’s Weinkontor füllen sich die Weingläser, in der Gaststätte Behr die Bierkrüge. Die Türen der Kneipe Chrissi’s stehen offen, der Geruch von kaltem Rauch zieht auf den Gehweg. Es gibt Regeln, die scheinen für den Stellinger Weg nicht zu gelten. „Kein Bier vor vier” ist eine davon.
Vor dem Quickshop-Kiosk sitzen drei Freunde, alle Mitte zwanzig, und trinken Pale Ale. Auftanken, bevor der Abend richtig beginnt. Sie sind hier öfter, erzählen sie. Nicht nachts zum Feiern. Eher früher, so wie jetzt, wenn die Straße noch ruhiger ist. Dann setzen sie sich vor den Kiosk, trinken meistens Bier, mal etwas anderes und quatschen. Dafür brauchen sie keine Bar.
»Bis vor ein paar Jahren sind die Vibes von Karstadt noch die ganze Straße runtergeschwappt«
„Viele meiner Freunde und Freundinnen wohnen in der Gegend”, erzählt einer von ihnen, Jakob. Deshalb sei er oft hier. Auch er wohnt in der Nachbarschaft. Wie er den Stellinger Weg beschreiben würde? Er überlegt kurz, trinkt noch einen Schluck. „Freundlich”, sagt er schließlich. Eigentlich sei ihm gar nicht aufgefallen, dass sich hier viel getan habe. Aber doch, wenn er drüber nachdenke, seien mehr Menschen unterwegs. Vielleicht auch nur wegen Corona – irgendwo müssten die Leute ja hin.
In der Gegend habe sich viel getan, sagt sein Freund Felix. Auch er hat mal hier gewohnt, mittlerweile ist er nach Berlin gezogen. „Bis vor ein paar Jahren sind die Vibes von Karstadt noch die ganze Straße runtergeschwappt”, meint er. Jetzt habe eine Ästhetisierung stattgefunden. Alles wird schicker – der Heußweg, die Osterstraße, der Stellinger Weg. „Guck mal, selbst der Penny hat jetzt so eine schnieke Holzfassade”, sagt der dritte, Jost. Sie lachen, trinken weiter.
Ein anderer Kiosk an der Kreuzung, die Schreibinsel mit Café in der ehemaligen Druckertankstelle. Sie haben Tische draußen stehen, fast immer sind sie belegt. Drinnen arbeitet eine junge Frau, lange dunkle Haare. Sie ist seit drei Jahren hier, die Stammkunden nennen sie beim Vornamen. „Hier kennen sich alle untereinander”, sagt sie. Es sei eine schöne, entspannte Atmosphäre. „Nachbarschaftlich eben.”
Doch als die Bars über Monate geschlossen waren, sei es stressig im Kiosk gewesen. „Wegen Corona haben die Menschen mehr getrunken”, sagt sie. Davon erzählen auch die Kronkorken auf dem Platz vor dem Kiosk, der Uringeruch in der Luft. Anwohner hätten sich wegen des Lärms der Betrunkenen beschwert, mehrmals musste die Polizei kommen. Jetzt verkaufen sie abends keinen Alkohol mehr nach draußen, seitdem sei es ruhiger. „Das ist auch gut so.”
Abends
Wenn der Tag in Eimsbüttel zu Ende geht, die Nebenstraßen zur Ruhe kommen, erwacht der Stellinger Weg. Aber die, die hier wohnen, schlafen nicht mehr ein. „Wir nicht. Die Kinder nicht”, sagt Kathrin S.* Sie wohnt seit 1996 im Stellinger Weg. Damals, erzählt sie, war er eine ganz normale Wohnstraße mit wenig Gastronomie. Oben das La Paz, weiter unten die Raucherkneipe Chrissi’s. Wenn es mal lauter war, sei sie runtergegangen. Ein kurzes Bescheidsagen, verständnisvolles Nicken, dann ein wenig Ruhe. „Aber die Stimmung ist viel aggressiver geworden”, meint sie. Zum Ende des Monats zieht sie aus. Nach 25 Jahren.
“Der Stellinger Weg ist zum Steindamm Eimsbüttels geworden”
Die Entwicklungen machen sie traurig. „Ich will diese Wut gar nicht haben”, sagt sie. Die vergrämte Nachbarin sein, die den Feiernden ihren Spaß nicht gönnt. Aber zu viel sei passiert in den letzten Jahren – und Corona hat die Situation noch verschlimmert. Mittlerweile gebe es keinen Tag mehr, an dem es nicht laut werde. Stark alkoholisierte Gäste, sowohl in den Restaurants und Bars als auch vor den Kiosken bis spät in die Nacht. Am Morgen danach Urinlachen, Erbrochenes und Kothaufen vor der Haustür. Ihre Tochter muss auf dem Weg zur Schule daran vorbei.
Mehrmals ruft sie zusammen mit anderen Nachbarn abends die Polizei. „Aber die können nichts machen.” Deswegen bleibe nur der Auszug. So entspannt viele die Atmosphäre im Stellinger Weg beschreiben, so angespannt empfindet sie Kathrin S. Alle Nachbarn seien gestresst, einer von ihnen habe sogar einen der Feiernden geschlagen. „Das ist eigentlich einer der entspanntesten Menschen, die ich kenne.” Ein anderer schütte regelmäßig Wasser vom Balkon. „Ein Nachbar hat gesagt: ‚Der Stellinger Weg ist zum Steindamm Eimsbüttels geworden’”, erzählt sie.
“Aber hier leben, nein danke!”
Der Konflikt hinterlässt sie zerrissen: Da ist die eine Seite, die sich freut, dass das Leben zurück ist. Die den Gastronomen die Kundschaft gönnt und der Kundschaft ihren Spaß. Und dann ist da die andere Seite. Das Unverständnis. Der Stellinger Weg sei zum Szeneviertel geworden – aber zu keinem der angenehmen Art. Es ist, wie die Hamburger Band Tocotronic 2005 singt: „Ich mag den Tanz, das Idiotenfest. Wenn wir irren, nachts im Kreis. Eine Bewegung gegen den Fleiß. All das mag ich. Aber hier leben, nein danke!”
Auch die Polizei weiß von der Lage im Stellinger Weg. 2020 rückte sie 328 Mal in der Straße aus. Im Vergleich zu 2018 erkennt sie eine steigende Tendenz – rund 15 Prozent mehr Einsätze. Bis einschließlich 31. Juni wurden die Beamten in diesem Jahr 163 Mal in den Stellinger Weg gerufen. 16 Mal ging es im Mai und Juni dabei um Ruhestörungen. Allerdings ging der Lärm nur einmal von einem der Restaurants aus. In den meisten Fällen meldeten die Anrufer zu viele Menschen an der Kreuzung zwischen Schopstraße und Stellinger Weg, besonders vor dem Kiosk Schreibinsel.
Es ist der Platz vor dem Tauschhaus, von dem auch Anwohner immer wieder erzählen. Der abends oft zu laut und morgens vermüllt ist. Die Polizei bewertet die Lage trotzdem als „nicht sehr auffällig”. Immerhin gab es in diesem Sommer Pandemielockerungen, besseres Wetter und die Fußball-Europameisterschaft. Verglichen mit den umliegenden Wohnstraßen gebe es zwar mehr Publikumsverkehr im Stellinger Weg. „Vergleicht man dies jedoch mit der Osterstraße oder dem Eppendorfer Weg, so sind keine Unterschiede feststellbar.” Die meisten Besucher kämen außerdem aus der Gegend – und reisen nicht aus anderen Hamburger Stadtteilen an. Aus Sicht der Polizei ist die Welt hier noch in Ordnung.
Nachts
Im Old MacDonald gegenüber gehen die letzten Bestellungen ein. Um 23 Uhr ist Schluss. „Als ob die vier Jungs in 20 Minuten zwei Pitcher trinken”, raunt ein Kellner seinem Kollegen zu. Sie wollen pünktlich dicht machen, bloß keinen Ärger mit den Anwohnern. Auch gegenüber beim griechischen Corfu-Grill ist noch gute Stimmung im überdachten Außenbereich, zwischendurch gibt es Ouzos aufs Haus – abends sind die Tische oft bis auf den letzten Platz gefüllt. Aber auch hier ist um 23 Uhr ist Schluss.
Ein junger Kellner schaut nach drüben, räumt dann leere Gläser vom Tisch. Am Wochenende sei hier immer so viel los, erzählt er. Er arbeitet seit drei Monaten im Restaurant. „Kennst du die Geschichte von Winterhude?”, fragt er. Erst wollte niemand in dem Stadtteil wohnen. Aber dann kam die Gastronomie, mit ihnen die Besucher und höhere Mietpreise. Er könne sich vorstellen, dass es auch hier so werde. „Nicht so wie in der Schanze vielleicht.” Anders, aber ähnlich. Der Stellinger Weg als Symbol der allgemeinen Stadtentwicklung? Noch glühen die Leute hier vor und ziehen weiter Richtung St. Pauli. „Wohnen würde ich hier trotzdem nicht wollen”, sagt er, während er das letzte Geschirr für diesen Abend auf seinem Tablett stapelt.
Die Türen schließen sich. Einige fahren nach Hause, winken Taxis an den Straßenrand, klatschen sich vor den Fahrradständern ab. Viele andere bleiben, sammeln sich an der Kreuzung und verteilen sich in die Nebenstraßen. Während die Osterstraße schon beim Leitungswasser angekommen ist, trinkt der Stellinger Weg noch weiter. Irgendwo geht immer was.
Drüben zum Beispiel brennt noch Licht in einer Kneipe. Draußen drängen sich Menschen auch neben den Tischen, stellen Biergläser auf Verkehrsschildern ab. Abende im Stellinger Weg sind solche, von denen nur verschwommene Bilder bleiben. Da ist so viel Nähe auf der Straße wie zuletzt vor der Pandemie. Fremde stoßen zusammen an, lachen, umarmen sich. Die Kneipe wird mit jeder Minute größer, verlagert sich vom Innenraum auf den Gehweg, zwischen die Autos, auf die Straße, auf die andere Straßenseite. Musik schallt nur leise nach draußen, das Leben ist an diesem Abend lauter. Es klingt nach trunkenen Liebeserklärungen, nach klirrendem Glas, nach „Hat jemand Feuer?”.
“Wenn wir nirgendwo rein dürfen, dann holen wir uns die Party eben nach Hause“
Wenn auch die letzten Bars und Lokale schließen, werden die Kioske im Stellinger Weg zu den Clubs der Straße. Grelle Neonreklame statt dämmriger Beleuchtung. Fahrradständer statt Barhocker. Dort sitzen sie in kleinen Gruppen, rauchen die letzten Zigaretten, trinken das letzte Bier der Nacht. Andere wollen noch mehr, wollen weiter. Eine Gruppe Männer im Anzug stolpert aus dem Kiosk. „Wenn wir nirgendwo rein dürfen, holen wir uns die Party eben nach Hause”, grölt einer, ein Sixpack unter dem Arm.
Zwischendurch stellt sich der einzige Mitarbeiter an diesem Abend in den Türrahmen und beobachtet die Situation. Wenn es zu eng auf dem schmalen Gehweg wird, ermahnt er die Menschen. „Bitte hier nicht sitzen bleiben, ja?”, sagt er ruhig und zieht an seiner Zigarette. Gerade darf er zwar Alkohol verkaufen – aber nur, wenn sie ihn nicht vor seiner Tür trinken. Das sagen die Verordnungen. Wenn er darum bittet, leert sich die Straße, zögerlich zwar, aber die Menschen hören zu.
Der Stellinger Weg ist lebendiger, wilder geworden – am Ende bleibt er aber mehr Eimsbüttel als St. Pauli, St. Georg oder Schanze. „Ich mach heute bis zwei”, sagt der Kiosk-Mitarbeiter zu einer Nachbarin, als die letzten Betrunkenen weiterziehen und das Ende der Nacht einläuten. „Danach kommen eh nur die reichen Leute, die nicht wissen, was sie wollen.”