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Aus seinen Recherchen hat Lior eine Führung durch das Grindel­viertel entwickelt, die von seiner Familie erzählt und an ihr Leben in Eimsbüttel erinnert. Foto: Rainer Wiemers
Aus seinen Recherchen hat Lior eine Führung durch das Grindel­viertel entwickelt, die von seiner Familie erzählt und an ihr Leben in Eimsbüttel erinnert. Foto: Rainer Wiemers
Magazin #26

Was Großmutter wusste

Jede Generation erzählt ihre eigene Geschichte – manche aber schwieg. Über eine Frau, die ihre vor der eigenen Familie verborgen hielt. Und ihren Enkel Lior Oren, der Verlorengeglaubtes Jahre später wiederfindet.

Von Alana Tongers

Als Lior Oren am 12. April 2012 in Hamburg ankommt, wartet nichts auf ihn. Er trägt einen Koffer. Ein kleiner schwarzer Hund mit großen Augen begleitet ihn, als er ein kahles Hotelzimmer betritt, mehr als 4.000 Kilometer von Zuhause entfernt. Eine Bekannte hat er in der fremden Stadt, sonst niemanden. Ein Teil seiner Familie hat hier einmal gelebt. Fast alle wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Viel mehr weiß Lior nicht von ihnen. Und eigentlich ist er deswegen auch gar nicht hier.

Aufbruch

Er mag Hamburg, irgendetwas zieht ihn her, was genau, weiß er nicht. Er besucht die Stadt 2010 zum ersten Mal, macht Urlaub und verliebt sich in sie. Für die Liebe gibt es keine rationalen Gründe. Stattdessen verleitet sie zu irrationalen Entscheidungen. Zum Beispiel Tel Aviv zu verlassen, den guten Job in der Tech-Branche, die Familie, die Freunde, die vertraute Sprache. Um dann in einem Hotelzimmer zu sitzen, so weit weg von Zuhause, mit nicht mehr als einem Koffer, einem Hund und der Idee einer Zukunft in einer Stadt, die er kaum kennt.

Als Helga Baruch am 26. August 1936 nach Palästina aufbricht, weiß sie nicht, was an der Küste des Mittelmeers auf sie wartet. Ihr ganzes Leben hat sie in Hamburg verbracht. Hier ist sie geboren, zur Schule gegangen, hat ihre Ausbildung begonnen, ihren Verlobten kennengelernt. Doch sie erfährt auch immer wieder Antisemitismus in der Stadt, die ihr so vertraut ist. Helga und ihr Verlobter verschreiben sich dem Zionismus, besuchen gemeinsam ein Hachschara-Lager in Rissen. Ihr Bruder Rolf, ebenfalls Zionist, ermutigt sie. Ihre kleine Schwester Marion ist traurig, malt ihr ein Buch zum Abschied. Ihr Vater Georg warnt: „Mein Kind, die Kamele werden dich fressen!” Helga geht trotzdem. Sie ist 21 und frisch verheiratet. Zusammen mit ihrem Mann Bernhard Arna schreitet sie über die Reling, besteigt den Dampfer „Galileo”, der sie über das Meer in das Land bringt, in dem ihr Leben besser werden soll. Rund 30 Jahre später, als Helga zum ersten Mal nach Hamburg zurückkehrt, sind Georg, Rolf und Marion Baruch tot.

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Hachscharah

…war die Bewegung, die junge Jüdinnen und Jüden auf ein Leben in Palästina vorbereitete. Sie wurden insbesondere in Handwerk und Landwirtschaft geschult – in Hachschara-Lagern lernten sie das Zusammenleben im Kibbuz kennen. Es gab etliche dieser Lager in ganz Deutschland, vor allem aber in Brandenburg.

Anfang

Zehn Jahre nach seiner Ankunft in Hamburg, an einem nasskalten Januartag ohne einen einzigen Sonnenstrahl, steht Lior Oren vor den Stolpersteinen, auf denen ihre Namen stehen. Er weiß noch, wie er sie bei seinem ersten Besuch in Hamburg unter herabgefallenem Laub entdeckte. What the fuck, dachte er da. Eigentlich wollte er nur das Haus sehen, in dem Georg und Marion Baruch zuletzt wohnten. Die Adresse, Heinrich-Barth-Straße, hatte er auf einen kleinen Zettel geschrieben. Nun sind da ihre Namen auf dem Boden. An die Toten, über die seine eigene Familie so wenig weiß, wird hier erinnert. Zuhause in Israel hatte niemand eine Ahnung, dass es die Stolpersteine gibt.

Lior Oren zeigt unserer Autorin Alana Tongers die Orte seiner Familie. Foto: Rainer Wiemers
Lior Oren zeigt unserer Autorin Alana Tongers die Orte seiner Familie. Foto: Rainer Wiemers

Heute kann Lior stundenlang von den Verwandten erzählen, die ihm bei seiner Ankunft in Hamburg noch so fremd waren. Er lächelt viel, flucht ab und zu, spricht Englisch, schnell, manchmal holen sich seine Worte selbst ein. Mittlerweile hat er einen guten Job, eine Wohnung in Eimsbüttel, einen Freundeskreis. Nur beim Deutschlernen habe er komplett versagt, lacht er.

Durch einen Zufall

In seiner Hand hält Lior eine Plastikmappe, auf die der Regen tropft. Darin Fotos, Briefe, Telegramme, Notizen. Erinnerungen in Klarsichtfolie. Er hat sie über Jahre mit der Unterstützung von Freundinnen gesammelt. Hat systematisch Archive durchkämmt, ist durch Deutschland gereist, auf der Suche nach den Geschichten der Familie, die er nie kannte. Aber begonnen hat alles mit einem Zufall.

2012, da wohnt Lior erst wenige Monate in Hamburg, klingelt sein Handy. Am Telefon ein Mann, den er nicht kennt. Es ist Urs Faes, ein Schweizer Autor. Er will ihn treffen, müsse ihm etwas erzählen, es gehe um Rolf Baruch, den Bruder seiner Großmutter. An einem verschneiten Tag im Januar 2013 treffen sie sich zum ersten Mal: Lior Oren und Urs Faes sowie Rüdiger Pohlmann und Mimi Sewalski, die übersetzt.

Urs Faes hat einen Roman geschrieben – auf dem Cover ein altes Foto, das Rolf Baruch mit einer jungen Frau zeigt. Sein Blick in der Ferne, ihrer zur Kamera, Sehnsucht und Hoffnung in Schwarz-Weiß. Der Verlag hat das Foto ausgewählt, ohne zu wissen, um wen es sich handelt. Ein Symbolbild für die Liebesgeschichte. Erst Pohlmann machte Faes darauf aufmerksam, wer der Mann auf dem Umschlag ist. Nun will Faes ein Buch über die Liebenden auf dem Foto und die Hachschara schreiben, aber er hat Fragen. Rolf habe Briefe an seine Schwester in Israel geschrieben. Ob Lior wisse, wo sie seien? Doch Lior muss ihn enttäuschen. „Wir haben nichts, die Familie weiß von nichts.”

Erinnerungen

Aber das Nichtwissen lässt Lior nicht los. Wer waren die Menschen, die damals hier in Hamburg lebten? Wie sind sie gestorben? Und warum weiß er so wenig von ihnen? Das Foto stößt seine Recherche an. Lior und seine Unterstützer Pohlmann und Sewalski finden Antworten in der Heinrich-Hertz-Schule, die Rolf Baruch am ehemaligen Standort am Schlump besucht hatte.

Dort begegnet Lior einer Lehrerin, sie drückt ihm einen Stapel Papiere in die Hand: die gesuchten Briefe und Telegramme, die Georg, Rolf und Marion nach Israel geschickt hatten. Ihrer eigenen Familie hatte Helga sie nie gezeigt, sie stattdessen der Schule übergeben, um damit den Unterricht und die Erinnerung an den Holocaust zu unterstützen. „Sie waren da – die ganze Zeit.”

Aufwachen

Lior Oren findet weitere persönliche Dokumente, die seine Großmutter in Hamburg hinterlassen hat. Eine Spur verwischter Erinnerungen, die sich durch die Stadt zieht. „In Israel hat sie geschwiegen – und hier in Hamburg war sie überall unterwegs!” Als der Krieg vorbei ist, als Deutschland und Israel in den 1960ern diplomatische Beziehungen aufnehmen, da nimmt Helga Arna den erstmöglichen Flug von Tel Aviv nach Hamburg.

„Viele Jüdinnen und Juden können keinen Fuß nach Deutschland setzen, geschweige denn ein deutsches Auto kaufen. Aber sie ist sofort hergeflogen. Das war ihr Zuhause”, erzählt Lior. Seine Großmutter verbringt fortan eine Jahreshälfte in Tel Aviv, die andere in Hamburg. Hier gibt sie Interviews, spricht in Schulen, unterstützt Buchrecherchen, bringt Fotos und Briefe in Archive. Ohne dass ihre Familie in Israel davon weiß. Und sie sucht selbst nach Antworten auf die Frage, wie ihre Geschwister und ihr Vater gestorben sind. Ihre Suche begleitet sie den Rest ihres Lebens: Noch 1990, ein Jahr vor ihrem Tod, schreibt sie an Esther Bejarano, die mit Rolf zusammen in der Hachschara war, um herauszufinden, wie er starb.

Lior Oren: Jede Begegnung bringt ihn ein Stück näher

Nun setzt ihr Enkel ihre Suche fort. Er sei stur, hartnäckig und wenn es sein muss, könne er gut nerven, sagt er über sich selbst. Bei seiner Suche hilft ihm das. Auf einem Blog schreibt er über jeden neuen Fund, jede Erkenntnis, auf englisch und hebräisch. Auf die Einträge folgen neue Hinweise: E-Mails von unbekannten Bekannten seiner Familie, die von weiteren Dokumenten wissen. Einmal schreibt eine Bibliothek, die geraubte Bücher der Familie Baruch in Stuttgart gefunden hat. Mittlerweile stehen sie in Liors Wohnung.

Die Familie Baruch 1936: Bruder Rolf, Schwester Marion, Eltern Georg und Irmgard, Helga und ihr Ehemann Bernhard Arna (v.l.). Foto: Privatarchiv Helga Baruch

Helga Baruch als junge Frau in Hamburg. Foto: Privatarchiv Helga Baruch

Jede Begegnung, jede Recherche, bringt ihm Georg, Rolf und Marion Baruch näher: Da ist Georg, der Vater der drei Geschwister, der im Ersten Weltkrieg für Deutschland kämpfte, ein Kreuz verliehen bekam und hoffte, es wäre das Ende des deutschen Antisemitismus. Der in der Reichskristallnacht von den Nazis verhaftet wird, seine Tochter Marion wochenlang alleine lassen muss. Der später mit ihr nach Minsk deportiert und bei seiner Ankunft vermutlich direkt erschossen wurde.

Die Geschwister

Rolf, der gutaussehende, charmante und leicht arrogante Zionist, den alle nur „Rolli” nennen, der im Hachschara-Camp in Ahrensdorf junge Jüdinnen und Juden ausbildet und selbst zurückbleibt. Der Affären hat und die Liebe findet. Den die Nationalsozialisten nach Auschwitz deportieren, der 1945 den Todesmarsch überlebt und dann im Konzentrationslager Mittelbau-Dora in Thüringen stirbt, kurz vor Kriegsende. Vermutlich ist sein Körper dort mit tausenden anderen vergraben. Ein Massengrab, auf dem heute ein öffentlicher Park mit einem Denkmal steht.

Helga und Bernhard Arna in den 40ern in Tel Aviv – mit ihrer erstgeborenen Tochter Magi, Liors Tante. Foto: Privatarchiv Helga Baruch

Die Baruchs in ihrer Wohnung in der Wrangelstraße 24. Hier wurden Helga und ihre Geschwister geboren. Foto: Privatarchiv Helga Baruch

Marion, die jüngste Schwester, die Klavier spielt und malt, Poster für die Hamburger Kammerspiele zeichnet. Die sich in die falschen Männer verliebt, ihre Geschwister vermisst, aber beim Vater in Hamburg bleibt. Die ganz alleine ist, als ihr Vater verhaftet wird. Sich in der Küche betrinkt, um schlafen zu können und die Angst zu vergessen. Die mit ihrem Vater Georg nach Minsk deportiert wird, dort vom Kommandanten Adolf Rübe auf einen Friedhof gebracht wird, sich bei minus 30 Grad ausziehen muss und nackt von ihm erschossen wird. Marion Baruch, die 22 ist.

Tragödie der ersten Generationen

Wenn Lior von ihr erzählt, bricht seine Stimme. Er, ganz in Schwarz, drei Piercings im linken Ohr, große Brille, hat auf einmal glasige Augen. Die Details von Marions Tod hat er 2019 im Archiv in Karlsruhe gefunden. Als erster die Gerichtsprotokolle geöffnet und sie gelesen. Erfahren, dass bei Adolf Rübe eine „sexual-pathologische sadistische” Persönlichkeit diagnostiziert wurde, dass er viele jüdische Mädchen so wie Marion erschoss, dass er zwar eine zeitlang im Gefängnis war, aber 1974 als freier Mann starb. „Ich habe so viele Dinge herausgefunden”, sagt er leise. „Und jedes Mal habe ich sie direkt für den Blog aufgeschrieben. Diese Materialien konnte ich für Wochen nicht anfassen. Ich bin mit allem klar gekommen, aber das hier ist einfach…” Er beendet den Satz nicht.

Er sei froh, dass seine Großmutter nie erfahren habe, wie ihre Geschwister gestorben sind. Und er versteht Helgas Schweigen. „Das ist die Tragödie dieser ersten und zweiten Generation. Die einen haben nie erzählt. Und die anderen haben nie nachgefragt. Sie hatten Angst zu fragen! Da ist diese große Traurigkeit, die du nicht anfassen willst.” Helga, meint Lior heute, habe auch geschwiegen, um ihre Familie vor dieser Traurigkeit zu schützen. Seine Recherchen seien für alle wie ein Aufwachen gewesen.

Ankommen

Helga und Bernhard Arna bekommen in Tel Aviv sechs Kinder. Für jede Million eins, werden sie später sagen. Eines davon ist Lior Orens Vater. Bis zu ihrem Tod 1991 verbringt Helga die Hälfte jeden Jahres in Hamburg.

Lior Oren hat mittlerweile ein Buch von und über Marion Baruch veröffentlicht, eine Führung entwickelt, die von seiner Suche und der Familie erzählt. Er spricht mit Schulklassen und arbeitet weiter an seiner Familiengeschichte. Alles für die nächsten Generationen, sagt er.

Der Hund ist mittlerweile ein anderer. Seine Familie und Freunde leben noch immer 4.000 Kilometer entfernt. Und er hier, in Hamburg, in Eimsbüttel, dem Zuhause der Familie Baruch, das nun auch seins ist. Manchmal, erzählt Lior, spaziert er mit dem Hund zu den Orten, an denen Georg, Rolf und Marion gelebt haben. Die er von Fotos und aus Briefen kennt. In einer Stadt, in der er sich immer noch manchmal fremd fühle, seien sie sein Anker. Er erkenne Teile von ihnen in sich wieder. Hier ein wenig Marion, da ein wenig Rolf. „Weißt du”, sagt er, „sie sind einfach meine Familie hier.”

Sie spielte Klavier, malte, zeichnete: Marion Baruch war die Künstlerin der Familie. Foto: Rainer Wiemers
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Marions Buch

„Ach schau an, und wer küsst mir?”: Als Helga mit ihrem Mann 1936 nach Palästina emigriert, zeichnet ihr die 17-jährige Schwester Marion ein Buch zum Abschied. Es zeigt das Leben der Familie Baruch, ironisch, unbeschwert. Im Laufe seiner Recherchen fand Lior Oren die Zeichnungen bei seiner Familie in Israel. In Zusammenarbeit mit Rüdiger Pohlmann, Miriam Sewalski und der Geschichtswerkstatt Eimsbüttel ist 2017 aus Marions Skizzen ein Buch von und über die junge Künstlerin entstanden. Begleitet wurde es von einer Ausstellung, die weiter von der Geschichtswerkstatt ausgeliehen werden kann.

Marions Buch: „Ach schau an, und wer küsst mir?” Der kurze Lebensweg von Marion Baruch • 2017
Galerie Morgenland / Geschichtswerkstatt Eimsbüttel • im Buchhandel erhältlich

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